Meridian - Flüsternde Seelen
weil unsere Unwissenheit offenbar spannender war. Anscheinend waren wir die Attraktion des Abends, so wie Besucher von auswärts es Einheimischen ermöglichten, sich eine Weile wie Touristen zu fühlen.
»Das ist eine große Feier zum Gedenken an die französischen und indianischen Händler, die sich Mitte des achtzehnten Jahrhunderts jedes Jahr in Fort Ouiatenon trafen.«
»Aber es steckt noch mehr dahinter.« Rumi schenkte den Erwachsenen Wein und uns sprudelnden Cidre nach. »Miss Sidika, erzählst du uns die Geschichte?«
»Ach, nun …«
»Bitte, tu mir den Gefallen. Unsere Neuankömmlinge sollten wissen, welche historischen Ereignisse wir in dieser Gegend feiern.« Rumi zwinkerte mir zu.
Sidika lehnte sich zurück und überlegte, wo sie anfangen sollte. »Also gut. Der Legende nach hatte sich ein Kind französischer Siedler im Wald am Ufer des Flusses Wabash verlaufen. Es war gegen Ende des Winters, also um diese Jahreszeit. Allerdings war es ungewöhnlich kalt, und es lag viel Schnee.«
»So kalt, dass der Wabash vollständig zugefroren war«, unterbrach Gus.
Sidika nickte und fuhr fort. »Alle Tiere verkrochen sich in ihre Höhlen oder flohen. Selbst in einem normalen Winter herrschte Lebensmittelknappheit, aber in diesem war es ganz besonders schlimm. Die Menschen kochten Tee aus Rinde oder buken sogar Pfannkuchen aus Lehm, einfach nur um etwas im Magen zu haben. In jener Zeit sah die Arbeitsteilung ganz einfach aus. Die Geschlechterrollen waren, wenn möglich, klar geregelt, jedoch nicht in allen Fällen. Das harte Leben in den neuen Siedlungsgebieten zwang alle, eine schwere Last zu tragen, wenn sie überleben wollten. Die Kinder mussten die Fallen kontrollieren und nachsehen, ob ein kleines Tier wie eine Moschusratte oder ein Biber hineingeraten war, während die Männer Jagd auf größeres Wild wie Hirsche, Bären oder wilde Truthähne machten. Diese Kinder, die nach heutigen Maßstäben noch recht klein waren – also zwischen sieben und zehn Jahren, manchmal sogar noch jünger –, mummelten sich also in Fellmäntel ein und zogen los. Sie hatten Hunger und froren, waren aber entschlossen, zumindest ein wenig Essbares für ihre Familien nach Hause zu bringen.«
»Und was machten die Frauen?«, wollte Faye wissen.
»Die blieben zu Hause und kümmerten sich um die Kleinkinder. Außerdem waren sie für die Sicherheit des Forts zuständig. Damals gab es zwar dort nicht viel zu stehlen, aber man musste das eigene Leben schützen.« Sidika trank einen Schluck Wein und fuhr fort. »Die Kinder gingen in die eine Richtung, die Männer in die andere, um den Spuren eines Hirschs zu folgen. Einige Stunden später kehrten alle Jungen zurück. Nur einer fehlte. Der verschwundene Junge war der Sohn eines Lieutenants, der auch als Bürgermeister der Festung fungierte. Also war er der Sohn eines wichtigen Mannes, der auch die Lebensweise der Eingeborenen kannte und respektierte. Deshalb hatten der Junge und sein Vater einige Freunde bei den hiesigen Stämmen, und so glaubten die Siedler anfangs, dass er einen davon besuchte.«
»Typisch Kind«, seufzte Rumi schmunzelnd.
Sidika fuhr fort. »Ihm drohte mächtiger Ärger. Aber niemand machte sich Sorgen, bis die Männer nach Hause kamen. Ein Krieger war bei ihnen, der als tapfer und stark galt. Außerdem hieß es, er habe Verbindung zur Welt der Geister. Er hatte die Männer aufgesucht, weil ihm Glühwürmchen erschienen waren. Sie hatten ihm gesagt, der Junge sei verletzt und ein bedeutsames Schicksal würde sich an ihm erfüllen. Es war für Glühwürmchen zwar noch zu früh im Jahr, aber da der Mann nie Geschichten erfand, glaubte ihm der Lieutenant.«
»Was war denn das Schicksal des Jungen?«, fragte ich und malte mir alles Mögliche aus.
Sie lächelte und hob die Augenbrauen. »Das gehört zur Geschichte. Inzwischen hatte der Wind aufgefrischt und den Schnee zu brusthohen Verwehungen aufgetürmt, weshalb Spurenlesen unmöglich war. Obwohl es sehr gefährlich war, sich bei diesem Unwetter auf den Weg zu machen, wollte der Vater des Jungen seinen Sohn auf keinen Fall im Stich lassen. Da seine restliche Familie im vergangenen Winter gestorben war, war der Junge alles, was er noch hatte. Also ging der Vater los, obwohl er wusste, dass er riskierte zu erfrieren, ehe er seinen Sohn fand. Der Krieger, der den Schmerz des Vaters spürte, als wäre es sein eigener, bat die Glühwürmchen, sie zu dem kleinen Jungen zu führen. Da flog ein Schwarm Glühwürmchen
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