Meridian - Flüsternde Seelen
etwas über sich zu erzählen.
Gus, dessen Mund von einem weißen Schnurrbart mit gezwirbelten Enden gekrönt wurde, begann. »Ich bin emeritierter Geschichtsprofessor von der Butler University. Inzwischen gebe ich hin und wieder einmal ein Seminar. Aber hauptsächlich bin ich Nachsteller.« Bei jedem zweiten Wort schob er seine Nickelbrille hoch.
»Verzeihung?«, sprach Tens die Frage aus, die mir auf der Zunge lang, während die anderen nickten.
»Ich verkleide mich und stelle die Schlachten aus Indianas Vergangenheit nach. Eine glorreiche Zeit. Uniformen, Flinten, Kanonen. Ein Spaß.« Er krempelte die Ärmel hoch und zeigte sehnige, sommersprossige Unterarme.
»So wie die Leute, die sich für den Bürgerkrieg interessieren?«
Als er lächelte, kamen nikotinfleckige Zähne zum Vorschein. »Genau.«
Faye kicherte und schüttelte ihren leuchtend roten, kinnlangen Pagenschnitt. »Wenn man findet, dass es Spaß macht, auf dem Boden zu schlafen und Schiffszwieback zu essen …« Ihre Nägel waren makellos korallenrot, und sie trug mehrere Ringe an jedem Finger. Ihr dunkler Teint wies auf griechische oder italienische Vorfahren hin, doch ihr Akzent war in meinen Ohren typisch für jemanden, der in Indiana aufgewachsen war.
»Ach, du bist ja nur neidisch auf unsere schicken sanitären Anlagen«, witzelte Gus.
Faye wandte sich an Tens und mich. »Inzwischen müssen sie aus Umweltgründen Chemieklos benutzen, sonst würden sie noch immer hinter die Bäume pinkeln. Ich bin ja so froh, dass ich nicht in der Zeit der Pioniere leben und mehrere Röcke übereinander tragen musste. Könnt ihr euch vorstellen, wie die damals einigermaßen würdevoll ihr Geschäft gemacht haben?«
Ciderbläschen stiegen mir in die Nase. So eine Bemerkung hatte ich aus diesem faltigen, freundlich wirkenden Mund nicht erwartet. Da sie mit einer Antwort zu rechnen schien, schüttelte ich den Kopf.
Während des Essens erlahmte das Gespräch ein wenig. Doch auf Rumis Drängen hin wurde die Vorstellungsrunde fortgesetzt. »Obwohl es mir die meisten nicht zutrauen würden, schreibe ich historische Romane, die in Indiana spielen und hauptsächlich von Jugendlichen handeln.« Sidikas weißes Haar erinnerte mich an eine Pusteblume. Ihre Augen funkelten humorvoll, und ihr pastellrosa Baumwollhemd stand am Hals offen, so dass ein goldener Ehering zu sehen war, der an einem Kettchen dicht über ihrem Herzen baumelte.
»Wundervolle Romane«, verkündete Rumi mit dröhnender Stimme.
»Zu gütig von dir.« Sie errötete in aufrichtiger Bescheidenheit und tätschelte ihm die Hand.
Nelli, die jüngste der Erwachsenen, ergriff das Wort. »Ich bin Gus’ Nichte und habe bei Rumi gearbeitet, als ich noch in der Highschool war.« Sie lachte auf. »Ich habe dafür gesorgt, dass ihm die Stifte nicht ausgingen …«
»Aber, aber!«, fiel Rumi ihr ins Wort. »Verrate doch nicht alle meine Fehler.«
Nellie bekam beim Lächeln Grübchen. »Früher hatte ich immer ein kleines Wörterbuch dabei, um zu verstehen, was er sagte. Aber während ich ein Wort nachschlug, kam schon wieder das nächste, bis er mich vollkommen abgehängt hatte.« Sie beugte sich mit verschwörerischer Miene vor. »Spart euch die Mühe und lasst euch einfach treiben. Und wenn ihr ihm nicht folgen könnt, bittet ihn so lange um ein Synonym, bis er ein Wort benutzt, das ihr kennt.«
Rumi lachte brüllend auf. »Genau wegen dieser Unverschämtheiten bist du gefeuert worden.«
»Ich bin aufs College gegangen.«
»Das ist dasselbe!«, rief er aus.
Gus drehte sich zu Tens um. »Erzähl uns, wo dein Name herkommt. Ist Tens die Abkürzung für etwas?«
Tens wischte sich mit der Serviette den Mund ab und legte die Gabel weg. »Hmm, ja … für … äh … Tenskawtawa.«
Gus und Sidika strahlten übers ganze Gesicht. »Oh, du bist nach Tecumsehs Bruder benannt?«
»Nach wem?«, wunderte sich Tens und riss fragend die Augen auf.
»Stammst du aus dieser Gegend?«, erkundigte sich Sidika mit einem Lachen.
»Nein, den Großteil meiner Kindheit habe ich in Seattle verbracht.« Seiner Miene war zu entnehmen, dass das nicht die ganze Geschichte war.
»Dann müssen deine Eltern von hier sein«, sagte Gus.
»Nicht dass ich wüsste.«
»Seltsam. Hast du indianische Vorfahren?«
Als Tens die Frage hörte, wurde er ein klein wenig lockerer. Sosehr er es auch hasste, im Mittelpunkt zu stehen, konnte ich ihm in dieser Situation nicht helfen, da ich die Antworten nicht kannte. Offen gestanden war
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