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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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auf und erleuchtete den Himmel. Die Glühwürmchen erzeugten so viel Licht, dass die beiden Männer ihre Laternen nicht brauchten. Stattdessen folgten sie dem Leuchten der Insekten das Ufer des Wabash entlang. Sie kletterten über umgestürzte Bäume und kämpften sich durchs Brombeerdickicht. Der Vater dachte, dass sie schon zu weit gegangen waren. Welcher kleine Junge konnte im brusthohen Schnee eine solche Strecke zurücklegen und überleben? Aber aufgeben kam nicht in Frage. Also arbeitete er sich weiter voran und bahnte sich abwechselnd mit seinem Freund einen Weg, um sein Kind zu finden.«
    Ich erinnerte mich daran, wie Tens und ich die kleine Celia gesucht hatten, die im Wald hinter Tante Merrys Haus in Colorado verloren gegangen war. Celia war in den Wald gelockt und dazu verleitet worden, in eine gefährliche Bügelfalle zu treten, die ihr das Bein zermalmt hatte. Als wir sie entdeckten, war sie wegen Blutverlusts und Unterkühlung dem Tod nahe gewesen. Sie hatte zwar noch versucht, durch mich ins Jenseits überzugehen, doch später erfuhren wir, dass Perimo sie in die Hölle geholt hatte. Nur deshalb hatte sie mich nicht mitgerissen. Tens und ich wechselten einen kurzen bedrückten Blick. Er hatte meine Gefühle erspürt.
    Sidika sprach weiter. »Als in der Ferne die Sonne aufging, verlor der Vater allmählich die Hoffnung. Welcher kleine Junge konnte ganz allein einen Tag und eine Nacht hier draußen überstehen? Weinend brach er zusammen. Doch der Krieger zog ihn auf die Füße und erklärte ihm, die Sonne gehe nicht in dieser Richtung auf, sondern hinter ihnen. Deshalb stamme das Leuchten nicht daher. Es sei noch Nacht. Rings um sie herum begann der Schnee zu schmelzen, und je näher sie dem Leuchten kamen, desto mehr nackte Erde war zu sehen. An der hellsten Stelle, wo Tausende von Glühwürmchen wimmelten, war das Licht stetig, nicht nur ein pulsierendes Flackern, und die frischen Triebe wilder Zwiebeln und anderer Gemüsesorten brachen aus dem Boden wie an einem Juninachmittag. Bereits reife Beeren hingen schwer an Ranken, und die Waben in den Baumhöhlen troffen von Honig. Die Äste von Dattelpflaumen und Walnussbäumen bogen sich unter ihrer essbaren Last. Vögel sangen in den Bäumen, und dicke Kaninchen liefen den Männern vor die Füße. Sie hörten Wasser rauschen. Im ersten Moment waren sie nicht sicher, was das für ein Geräusch war, bis sie erkannten, dass sie ganz vergessen hatten, wie der Wabash River mitten im Frühjahr klang. Und dort, umgeben von Glühwürmchen, lag der kleine Junge und schlief tief und fest. Er hatte seinen Fellmantel ausgezogen und benutzte ihn als Kopfkissen. Sein Gesicht war mit Beerensaft verschmiert, und seine Finger waren klebrig vom Honig. Offenbar hatte er so viel gegessen, wie er erreichen konnte. Allerdings steckte eines seiner Beine im Boden fest und hatte sich in einen verrottenden Baumstumpf verkeilt, so dass er sich nicht hatte befreien können.«
    Es zog mir den Magen zusammen. Ich wusste, wie ein eingeklemmtes Bein aussah.
    »Der Vater und der Krieger aßen sich richtig satt und tranken aus dem Fluss, bis ihr Durst gestillt war. Während das Kind schlief, gruben sie den Boden rund um sein Bein auf. Dabei stießen sie auf Kaninchen, Biber und Opossums, die in dem Baumstumpf überwintert hatten. Also luden sie die Tiere auf ihren Schlitten, um sie mit ins Fort zu nehmen, damit auch die anderen etwas zu essen bekamen. Schließlich gelang es ihnen, das Bein des Jungen aus dem Baumstumpf zu ziehen. Er war unverletzt. Sie pflückten Beeren und Dattelpflaumen, gruben Zwiebeln und Wurzeln aus, ernteten Honig und wilden Mais und packten alles ebenfalls auf den Schlitten. Die Glühwürmchen warteten, wärmten die Erde und verbreiteten Licht, bis die Männer so viel eingesammelt hatten, wie sie tragen konnten. Inzwischen hatte der Schneesturm außerhalb ihrer Blase aufgehört. Im Osten ging die Sonne auf, und die Männer konnten den Rückweg nach Hause ins Fort Ouiatenon gut erkennen. Die Glühwürmchen flogen eines nach dem anderen fort, bis es war, als wären sie nie da gewesen. Der Wabash fror wieder zu, und Ranken, Bäume und Erde verschwanden unter der Decke des Winters.«
    »Ich liebe diese Geschichte«, seufzte Faye. »Sie ist so glücklich.«
    Sidika lächelte sie an. »Soll ich zu Ende erzählen?«
    »Bitte«, sagte ich. Ich musste mich räuspern, um das Wort herauszubringen.
    »Die drei kehrten zurück ins Fort, wo während der Nacht wieder eine Mutter

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