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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Eichhörnchen waren nur als bewegliche Schemen wahrzunehmen.
    Ich drehte mich auf den Bauch. Ich war ein Feigling. Ich würde nicht gehen. Die Kinder konnte ich weder zurücklassen noch mitnehmen. Man würde mich wegen Entführung anzeigen. Dann würde ich in Haft landen. Auch wenn ich versucht war, das Risiko einzugehen und das Schicksal herauszufordern. Aber in diesem Fall würde ich eben nicht mehr in diesem Gefängnis sitzen, sondern in einem anderen. Und die Kinder, die würde man hierher zurückbringen, wo ich ihnen nicht mehr helfen konnte. Bis jetzt war noch kein Kind über den sechzehnten Geburtstag hinaus im DG geblieben. Warum war ich so erpicht darauf, das erste zu sein?
    Ich holte die Postkarte heraus, die Ms. Asura mir gegeben hatte. Ich hatte sie in meinem Schuh versteckt, damit die Heimleiterin sie nicht fand. Kirian. Ich war dreizehn gewesen, als er in der Nacht verschwand. Ohne Abschied, ohne Kuss. Ich hatte ihn für meine Familie, meinen Freund, meinen Partner gehalten. Und dann hatte er mich hier zurückgelassen. Hin und wieder erhielt ich Postkarten wie diese, weitergereicht von Ms. Asura.
Ich vermisse Dich. Ich arbeite viel, um Geld für uns zu sparen. Ich liebe Dich, Kirian.
     
    Auf dem dunklen Speicher streckte Kirian die Hand aus und berührte meine. Wir verschränkten die Finger ineinander. Mein Herz klopfte so heftig, dass er es bestimmt hören konnte. »Wo fahren wir zuerst hin?«
    »Hollywood«, antwortete er.
    »Warum?«
    »Viele Strände. Wir könnten im Sand campieren.«
    »Ich koche.«
    »Wir könnten ein Restaurant eröffnen. Du kümmerst dich ums Essen und ich …«
    »… um unsere Kinder!« Ich kicherte.
    »Kinder?« Er lachte auf. »Wie viele?«
    »Ganz viele. Und Haustiere. Ich möchte ein Schwein mit einem dicken Bauch wie das, von dem Miss Claudia erzählt hat.«
     
    Um mich herum dämmerte der Abend. Ich hatte mir zehn Minuten hier draußen gegönnt, während die Kinder aufaßen. Die Heimleiterin war noch nicht zurückgekehrt. Die Nächte waren noch der Jahreszeit entsprechend kalt und frostig, doch tagsüber war es seltsam warm. So warm, dass ich draußen keine Jacke brauchte. Meine gebrauchten, abgetragenen Sachen waren bei weitem nicht dick genug. Wir durften uns von den Habseligkeiten derer, die in Särgen abtransportiert wurden, nehmen, was wir wollten. Doch bis die Reihe an uns kam, war nichts Wertvolles mehr übrig.
    Ich kaute an meinen Nagelhäuten. Sie brannten schmerzhaft, als ich sie zurückschob, weil ich dringend das Gefühl brauchte, etwas zu spüren. Außerdem bluteten sie. Häufig und stark. Ich gab mir wirklich Mühe, nicht daran zu zupfen. Aber das Blut erinnerte mich daran, dass ich wenigstens im Moment noch lebte. Und das Beißen des Desinfektionsmittels beim Putzen half mir beim Wachbleiben.
    Ich zog Schuhe und Strümpfe aus und steckte die Zehen in das Wasser und den Schlamm des Bachbetts. Meine gekrümmten und geschwollenen Zehen wurden rasch steif vor Kälte, und ein Schauder durchlief meinen Körper. Die Wirkung war betäubend.
    Dann stützte ich den Kopf auf die Knie, um das DG hinter mir im Auge zu behalten. Die drei Stockwerke, Dachgaubenfenster und weißen Säulen verliehen ihm ein würdiges, wenn auch vernachlässigtes Äußeres. Aus der Nähe bemerkte man, wie vergilbt und abgeblättert der Anstrich war, doch aus der Entfernung war es schon schwieriger festzustellen. In diesem Sommer würde die Heimleiterin die Kinder dazu verdonnern, das Haus zu streichen. Und ich würde nicht da sein, um ihnen zu helfen.
    Das DG war das einzige Zuhause, das ich kannte. Ich konnte mich an nichts vor meiner Ankunft erinnern. Zumindest nicht deutlich. Es waren nur Gefühle und vage Träume. Ich war ziemlich sicher, dass ich sie mir selbst ausgedacht hatte, um mir die Wirklichkeit erträglicher zu machen.
    Die Heimleiterin beschäftigte auch Mitarbeiter, die bei der Pflege der Gäste halfen, putzten und Reparaturen ausführten, aber hauptsächlich, um uns Kinder zu bewachen. Wenn einer von ihnen, was selten geschah, die Zustände hier bemerkte, tatsächlich Notiz von ihnen nahm und sich Sorgen um uns machte, erschien er bald nicht mehr zur Arbeit. Ich wusste nicht, was aus den Leuten wurde. Sie verschwanden so schnell und wortlos, wie sie gekommen waren.
     
    »Es ist mir egal, was sie sagen. Ich gehe nicht ohne dich.«
    »Sie werden dich zwingen.«
    »Das können sie nicht. Ich werde mich wehren.«
    »Du kannst dich nicht gegen alle auf einmal

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