Meridian - Flüsternde Seelen
freundlichem Ton fort. »Sie sieht in jedem nur das Gute. Ich wette, sie wird dich nach deinen Träumen fragen und wissen wollen, was du mit deinem Leben anfangen möchtest.«
Ich schwieg, weil es darauf keine passende Antwort zu geben schien.
Ruckartig drehte sie sich wieder zu mir um. So schnell ich konnte, senkte ich den Blick. »Sie lügt«, stieß sie gehässig hervor. »Sie wird dafür bezahlt, nett zu dir zu sein. Es ist ihr Beruf. Später am Telefon lachen wir dann darüber. All eure albernen kleinen Wünsche.« Sie kicherte hämisch. Offenbar war Publikumsbeteiligung bei ihrem Monolog überflüssig. Sie setzte sich an den Schreibtisch und schaltete den Computer ein.
Ich straffte die Schultern und hielt die Beine gerade, obwohl ein Schwindelgefühl in mir hochstieg. Das Pochen hinter meinen Schläfen wurde von Tag zu Tag schlimmer.
Die Heimleiterin betrachtete mich über den goldenen Rand ihrer Lesebrille hinweg. »Ich werde nicht ewig hier bleiben. Ich bin nicht die erste Heimleiterin und werde auch nicht die letzte sein. Ich setze mich in Tampa zur Ruhe, wohne am Strand und schaue mir jeden Tag mit Klaus meine Lieblingssendungen an. Du bist dumm, Juliet, ein hoffnungsloser Fall. Aber ich bin klug und habe einen Plan. Mein ganzes Leben habe ich mich in diesem Drecksloch abgerackert, und jetzt habe ich es fast geschafft. Du hast ja keine Ahnung, was an deinem Geburtstag passieren wird.«
Immerhin waren wir nicht diejenigen, die in die Hölle kommen würden. Aber ich schwieg.
»Klopf, klopf!« Als Ms. Asura schwungvoll die Bürotür öffnete, wehte mir eine Parfümwolke entgegen. »Bist du fertig, Juliet?«
»Ist sie«, antwortete die Heimleiterin an meiner Stelle. »Benimm dich, Juliet.« Sie und Ms. Asura wechselten einen Blick, den ich nicht deuten konnte.
Ich nickte und folgte Ms. Asura. Wenn sie Kinder herbrachte, fuhr sie einen großen weißen Transporter. Doch wenn sie allein war, kam sie in einem kantigen Sportwagen, der sicher ein Vermögen gekostet hatte.
Ms. Asura schaltete die Musik an, ein Stück voll mit zornigem Gebrüll, lautem Getrommel und kreischenden Gitarren. Dazu klopfte sie mit ihren lackierten Fingernägeln aufs Lenkrad. Da ich befürchtete, mich vor Kopfschmerzen gleich übergeben zu müssen, versuchte ich, durch den Mund statt durch die Nase zu atmen, was ein wenig half. Wir fanden einen Parkplatz in der Nähe des Cafés. Auf dem Gehweg standen lachende und plaudernde Eltern mit Kinderwagen und Kleinkindern an der Hand.
Ich war schon einige Male an einem Café wie diesem vorbeigekommen und hatte unauffällig die Leute beobachtet, die sich fröhlich und sorglos unterhielten und dabei aufgeschäumte Getränke zu sich nahmen. Allerdings war ich noch nie in so einem Lokal gewesen. Ich steckte die Hände tief in die Taschen meines Kapuzenpullis und scharrte mit den Füßen.
Ms. Asura lächelte die ganze Zeit. Ihre Augen funkelten, und meine Verlegenheit ließ ihr Lächeln nur noch breiter werden.
Der Duft von frischem Kaffee, warmer Milch, Donuts und Kuchen erinnerte mich daran, dass ich zwar für die anderen gekocht, aber selbst nicht gefrühstückt hatte. Mein Magen knurrte, und zwar so laut, dass ich peinlich berührt die Hand darauf presste.
Ms. Asura hatte es nicht gehört oder tat zumindest so. »Was möchtest du denn?«
»Ich …« Ich las die Tafeln mit den Speisekarten, kannte aber die meisten Wörter nicht. Hin und wieder wurde mir bewusst, was für ein abgeschirmtes Leben ich führte, und manchmal hielt ich mir auch vor Augen, dass ich wieder einmal seit Monaten keinen Fuß vor das DG gesetzt hatte. Meistens jedoch war ich zu beschäftigt oder zu müde, um darüber nachzudenken. Und jetzt war wieder einer jener Momente, in denen ich jede Sekunde spürte, die ich nicht in der Schule, in einem Einkaufszentrum oder in einer eigenen Familie verbracht hatte.
Ms. Asura tätschelte mir die Schulter. Ihre Miene wirkte geduldig. Als sich die Leute hinter uns in der Schlange zu räuspern begannen, zeigte ich einfach auf das überdimensionale Schild neben dem Tresen. Ich las nicht einmal, was darauf stand, sondern wollte nur nicht mehr angestarrt werden.
»Bist du sicher?«, fragte sie mich.
Ich nickte.
»Warum setzt du dich nicht? Ich hole die Getränke.« Ms. Asura schickte mich zu einem Zweiertisch in der Ecke. Dann plauderte sie mit zwei Männern im Anzug, als würde sie sie schon seit einer Ewigkeit kennen.
Obwohl ich versuchte, mir die Ehrfurcht nicht anmerken zu
Weitere Kostenlose Bücher