Meridian - Flüsternde Seelen
jeder Sekunde eine frische Farbschicht aufgetragen. Die Patienten des Heims, die gerade starben. Es waren auch Kinder da, nur wenige zwar, in Reih und Glied, verwirrt, aber dennoch vorhanden. Starben hier gerade Kinder, oder waren das Geister, die zwar tot, aber nicht übergegangen waren?
»Wir haben nicht viel Zeit. Diese lieben Seelen haben sich bereit erklärt, dein Fenster eine Weile offen zu halten, damit wir reden können.«
»Wie ist das möglich?« Ich sah sie verdattert an.
Tante Merry machte ein ernstes Gesicht. »Dafür ist jetzt keine Zeit. Schau ins Buch. Neunzehnhundertdreiundvierzig. Ein Mädchen namens Prunella.«
Ich nickte, als ob ich sie verstanden hätte.
Sie fuhr fort. »Du musst aufpassen, dass du Juliet nicht ängstigst. Sie wird dir nicht glauben. Vater Anthony ist der Schlüssel. Bring sie zu ihm. Sie wird die anderen nicht freiwillig verlassen. In der Nähe gibt es einen Clan Aternocti.«
Blitzschnell bewegte Tante Merry sich wieder zum Fenster, als der letzte alte Mann vortrat. Er hatte einen kleinen Jungen an der Hand, den ich nicht kannte.
»Warum sind die Kinder hier?«
»Sie gehen über …«
»Aber …«, rief ich und blickte ihr nach, als sie über das Sims verschwand. Ich wollte nicht, dass sie ging. Nach Luft schnappend, sah ich zu Tens auf, der mir den Mund zuhielt. Da er die Taschenlampe fest vor die Brust gedrückt hatte, wurde er nur von einem schwachen Lichtkegel erleuchtet.
Ich lockerte den Griff um seine Hand. Meine Nägel hatten sicher Abdrücke hinterlassen.
Sein Gesichtsausdruck verriet mir, dass er sich fragte, ob ich schon wieder vollständig bei mir war, so dass er meinen Mund freigeben konnte.
Ich nickte und schnappte nach Luft. Selbst in dem stickigen, staubigen Lagerraum konnte ich meinen Hunger nach Sauerstoff stillen. Ich lockerte den Krampf in meinem rechten Bein, indem ich es um Tens’ Taille schlang.
»Okay?«, fragte er.
»Besser«, erwiderte ich, als der Krampf nachließ.
Sein Atem wurde ruhiger, bis es beinahe klang, als wäre er eingeschlafen – wäre da nicht sein reglos angespannter Körper gewesen.
Ich spitzte die Ohren, um aus den Geräuschen, die rings um uns tosten, einzelne Stimmen herauszufiltern. Die Angst zehrte an meiner Vernunft, und ich fühlte mich plötzlich wieder wie in Revelation, voller Angst, Perimo könnte mit seinen Handlangern hereingestürmt kommen und uns anzünden, wie er es mit dem Haus meiner Tante und ihren sterblichen Überresten getan hatte. Er ist tot.
Er ist tot. Er ist tot. Josiah hat ihn umgebracht.
Mein Mantra tröstete mich ein wenig. Doch ich musste es immer weiter wiederholen, während ich versuchte, meinen Atem an den von Tens anzupassen. Josiah, ein Kriegerengel, einer von denen, die mit Licht gegen das Böse kämpften. Er hatte Perimo mit so viel Licht erfüllt, dass dessen Dunkelheit sich für immer aufgelöst hatte. Ich wusste noch nicht genug über Kriegerengel. Mir war nur bekannt, dass sie die einzigen waren, die Aternocti töten konnten.
Tens schaltete die Taschenlampe aus. Der schmale Lichtstrahl, der unter der Tür durchdrang, reichte nicht bis in unsere Ecke hinter den Putzutensilien, und es wurde stockdunkel. »Merry, warum liegt hier hinten eine Matratze?«, flüsterte Tens mir ins Ohr. Sein Atem kitzelte mich und jagte mir einen Schauder den Rücken hinunter.
»Was?« Ich blinzelte.
»Jemand schläft hier.«
Vielleicht würden das ja wir sein, wenn es sich um eine Falle handelte. »Womöglich wussten sie, dass wir kommen, und haben die Kammer zur Zelle umfunktioniert.«
»Dann hätten sie sich die bequeme Matratze gespart.« Er schnalzte mit der Zunge.
»Guter Einwand.«
»Wer also?« Tens ließ nicht locker, und ich biss an.
Jemand verkriecht sich hier.
»Die Matratze ist versteckt«, merkte ich an.
Ich spürte, dass Tens nickte.
Ich konzentrierte mich voll und ganz auf den Augenblick, schob alle Furcht vor dem Unbekannten beiseite und schloss die Augen, obwohl das in der Dunkelheit überflüssig war.
»Juliet.« Ich war sicher, dass ich recht hatte.
»Warum?« Seine Hüfte berührte meine.
Ich wusste nicht, warum, es war eben einfach so. Es war dasselbe Gefühl, das ich auch bei unserer Begegnung am Fluss gehabt hatte. Die Teile passten ineinander. »Sie zieht sich hierher zurück. Mach die Taschenlampe an.«
Er betätigte den Schalter. »Vorsicht«, warnte er.
Als ich mich umblickte, bemerkte ich in der hintersten Ecke drei Putzmittelflaschen, die nicht dorthin zu
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