Meridian - Flüsternde Seelen
dasaßen. Ich fühlte mich zu elend, um an eine Verführungsszene auch nur zu denken. Weder aktiv noch passiv.
Eine Stunde später war die Salbe getrocknet und rissig geworden. Der Ausschlag hatte sich weiter ausgebreitet, und die Eisbeutel hatten inzwischen Zimmertemperatur. Hinzu kam, dass die verdammten Fäustlinge mich daran hinderten, mich ordentlich zu kratzen, und dass ich überhaupt nicht müde war. Seufzend rutschte ich auf den Laken herum und starrte entnervt zur Decke.
Bodies Warnung vor dem Giftefeu. Wir hätten auf ihn hören sollen. Andererseits war er es, der uns mitten hindurch geschickt hatte.
Als es an der Tür klopfte, wedelte Custos mit dem Schwanz, rappelte sich auf und schaute erfreut aus dem kleinen Fenster.
»Es ist mir egal, wer es ist.« Ein dünnes Laken bedeckte meinen BH und das Höschen.
»Ich versuche aufzumachen.« Tens stand auf und wankte in seinen Boxershorts zur Tür.
»Ach herrje, du meine Güte! Hat dich jemand ausgepeitscht?« Rumis dröhnende Stimme wirkte entspannend auf mich. Er war wie ein Großvater, und ich fühlte mich in seiner Gegenwart absolut sicher, obwohl wir ihn erst seit so kurzer Zeit kannten. Offenbar erging es Tens ähnlich, denn er kehrte zum mit einem Laken abgedeckten Sofa zurück und legte sich wieder hin.
»Schaut euch beide nur an.« Rumi stieß einen ungläubigen Pfiff aus, beugte sich herunter und hauchte mir einen Luftkuss auf die Stirn. »Als Joi anrief und mir erzählte, ihr wärt mit Giftefeu in Konflikt geraten, habe ich an ein bisschen Ausschlag gedacht. Das ist ja entsetzlich. Seid ihr sicher, dass es Giftefeu war?«
Ich brummte etwas.
»Wir glauben es wenigstens«, antwortete Tens.
»Ach, ihr habt offenbar nie dieses Sprichwort gehört:
Drei Blätter soll man meiden, sonst muss man später leiden.
«
»Rumi?«, entgegnete ich in einem Tonfall, der ihn zurückweichen ließ. »Glaubst du nicht, wir hätten einen Riesenbogen um das Zeug gemacht, wenn wir dieses Gedichtchen gekannt hätten?«
»Wohl wahr.« Er seufzte mit verzweifelter Miene. »Also kommt ihr heute Abend nicht.«
Ich setzte mich zu rasch auf. »Nein, wir wollen kommen.« In Wahrheit hatte ich in meinem Elend seinen Tag der offenen Tür ganz vergessen. Ich scheuerte meine behandschuhten Hände an der Bettdecke.
»In diesem Zustand würdet ihr die anderen Gäste erschrecken.«
»Ist es denn so schlimm?«
»Ist es.«
Seufzend und erleichtert, dass er mir die Entscheidung abgenommen hatte, legte ich mich wieder hin. Ich wollte ja keine Memme sein, aber in diesem Moment wäre ich sogar bereit gewesen, die Aternocti um Hilfe anzuflehen.
»Ich erstatte Bericht, wenn alles erledigt ist.«
Ich lächelte, obwohl davon die mit Salbe bedeckten wunden Stellen auf meinen Wangen aufbrachen.
Rumi ging, nachdem er uns das Versprechen abgenommen hatte, dass wir uns schonen und ausruhen würden.
Ich trug weitere Cremeschichten auf und schluckte einige Benadryl. Dann lag ich da und starrte an die Decke. Ich fühlte mich abscheulich und sehnte mich nach Abwechslung. Also las ich noch ein paar Seiten im Buch meiner Tante und suchte den Eintrag über Prunella, den zu finden sie mir aufgetragen hatte. Ich stieß zwar auf eine Prudence, konnte aber keine Prunella entdecken. Tens surfte mit seinem Laptop im Internet, sah sich alberne Videos an und kaufte sich neue Stiefel.
Das Klopfen an der Tür war zu höflich und schüchtern für Joi oder Rumi.
Tens wartete mit dem Aufmachen, bis ich in ein Nachthemd geschlüpft war. »Vater Anthony?«
Anthony Theobald wirkte erst verlegen, dann erschrocken. »Tens, was ist denn mit dir passiert?«
»Giftefeu. Kommen Sie rein.«
»Ah, dann ergibt das hier mehr Sinn.« Er hielt ein zusammengerolltes Blatt Zeichenpapier und ein Schraubdeckelglas hoch, das zu leuchten schien. »Bist du sicher, dass es Giftefeu ist? Ein schwerer Fall. Oh, Meridian, du auch?« Offensichtlich entsetzt, kam er auf mich zu. »Was kann ich für euch beide tun?«
Ich ging zum Kühlschrank, um etwas zu trinken zu holen. »Wir sind nicht ansteckend, oder?«
»Nein, Giftefeu ist keine Erkältung.«
»Möchten Sie etwas trinken?«
»Nein danke. Ich würde gern mit euch reden, wenn es euch passt.«
Tens wies auf Sofa und Sessel. »Klar, Vater Anthony. Was gibt es denn?«
Wir setzten uns aufs Sofa, ihm gegenüber. »Ich bin Priester geworden, weil es mein Glaube war, der mich gerettet hat«, begann er kopfschüttelnd. »Ich mag den Titel
Vater
nicht, weil er mir von
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