Meridian - Flüsternde Seelen
Indianapolis hinein.«
»Weiter«, forderte ich ihn auf.
»Ich bete dort in der Kapelle, wenn es möglich ist. Also bin ich niedergekniet und habe wie immer ein Gebet gesprochen. Und als ich aufgeblickt habe, kam vom Altar her ein Mann auf mich zu.«
»Von hinter dem Altar?«, fragte ich.
»Nein. Dahinter ist nur eine Wand.«
»Dann vom Altar selbst?«, erkundigte sich Tens.
»Aus dem Licht. Einem unbeschreiblich hellen Licht.«
»Wie sah er aus?«
»Sehr groß, kräftig gebaut. Eine Hautfarbe wie Pflaumen und zermahlener Obsidian. Ganz schwarz.«
Ich spürte, dass ein Lächeln meine Lippen umspielte. »Trenchcoat? Sonnenbrille?«
»Genau.« Tonys Augen weiteten sich vor Erleichterung.
»Er heißt Josiah. Hat er mit dir gesprochen?«
»Ja, mit einem wunderhübschen Akzent. Massai vielleicht? Er hat nicht lange genug geredet, als dass ich seine Herkunft hätte erkennen können. Ist er Afrikaner?«
»Nun …«, stammelte ich.
»Er ist ein Engel. Ein Kriegerengel«, erwiderte Tens.
»Das habe ich mir fast gedacht.« Tony nickte. »Das erklärt sein Kommen und sein Gehen.«
»Was meinst du damit?«
»Kirchen, Altäre im Besonderen, gelten schon lange als Türen, als Risse in der zeitlichen Abfolge. Man nimmt an, dass Gott seine irdischen Erscheinungsformen auf diese Weise von Ort zu Ort bewegt. Wie mit einem Aufzug in den Himmel. Natürlich würde das nie jemand zugeben. Es ist streng verboten, auch nur hinter vorgehaltener Hand darüber zu sprechen. Doch in vielen kirchlichen Schriftstücken heißt es, ein Bote Gottes sei aus dem Altar erschienen und auch wieder dort verschwunden. Früher durfte ein Priester sich nur in Gegenwart eines Zeugen dem Altar nähern.«
»Als Geleitschutz?« Ich schnaubte.
»Ja, jemand, der melden konnte, ob das Verschwinden eines Priesters Gottes Werk war. Angeblich hat Johannes Paul der Zweite …«
»Der Papst?«
Er nickte. »Der inzwischen verstorbene. Eines seiner Wunder war, dass er zwischen dem Vatikan und einer Gemeinde in Brasilien gewandert ist, die nach einem Erdrutsch verzweifelt nach ihm gerufen hat.«
»Wahnsinn!« Man lernte jeden Tag dazu.
»Und dieser Josiah wollte euch das hier geben.«
Das Glas leuchtete, und als ich es Tens aus der Hand nahm, spürte ich, dass es warm war. Es sah aus, als hätte jemand einen verflüssigten Leuchtstab hineingegossen.
Tony lächelte, als ich es in den Händen drehte. »Als er es mir überreicht hat, habe ich zuerst auf Glühwürmchen getippt.«
»Weißt du, was das ist?«, fragte ich.
»Josiah sagte, ihr sollt damit das Gift in eurer Haut bekämpfen«, antwortete Tony.
Tens nickte. »Also ist es gegen den Efeuausschlag?«
»Das wäre meine Vermutung. Ich habe so etwas noch nie gesehen.«
Ich warf Tens einen Blick zu. Was, wenn wir es nicht mit einer ganz gewöhnlichen Pflanze zu tun hatten? Wenn die Aternocti dahintersteckten? Josiah würde doch wohl kaum erscheinen, um uns ein Medikament gegen einen einfachen Hautausschlag zu bringen. Oder? »Warum werden wir ständig gefragt, ob wir sicher sind, dass es Giftefeu ist?«
Tens zuckte mit den Schultern. »Keinen Schimmer.«
Tony sah zwischen mir und Tens hin und her. »Vertraut ihr Josiah?«
»Total«, erwiderten wir im Chor.
»Dann glaubt ihm, dass ihr dieses Mittel braucht, ganz gleich, worum es sich handelt.«
»Dann reiben wir unsere wunden Stellen wohl am besten damit ein.« Ich schraubte das Glas auf und schnupperte. Es duftete wie Kuchen im Backrohr, Frühlingserde in der warmen Sonne und saubere Laken. Ich hielt Tens das Glas hin. »Was riechst du?«
Er schnupperte ebenfalls. »Jasmin, gegrilltes Hühnchen und den Föhrenwald in den Cascade Mountains.«
Ich hatte nichts davon wahrgenommen. Neugierig streckte ich Tony das Glas hin. »Und du?«
Er schnupperte und atmete dann mit einem Lächeln tief ein. »Das Meer, Erdbeeren in der Sonne und Kürbispastete.«
Ich steckte den Finger in das Glas. Die Salbe war zähflüssig, breiig und klebrig wie Marshmallowcreme. Die Wärme und lindernde Wirkung lösten in mir den Wunsch aus, mich einfach damit zu übergießen und darin zu baden und herumzuspringen. Ich nahm ein wenig auf den Finger, beugte mich zu Tens hinüber und schmierte es ihm auf die Wange. Seine Augen weiteten sich.
»Was ist?«, wollte ich wissen.
»Es fühlt sich so gut an. Probier mal.« Er strich mir etwas davon auf den Hals.
Es war, als käme man nach langem Frieren endlich in die wohlige Wärme. Ich seufzte und spürte, wie die
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