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Meridian - Flüsternde Seelen

Meridian - Flüsternde Seelen

Titel: Meridian - Flüsternde Seelen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Menschen, nicht von Gott oder Jesus Christus verliehen wurde. Ich arbeite für Gott, nicht für die Kirche. Also nennt mich einfach Tony und siezt mich nicht.«
    »Okay.« Tens nickte.
    »Verstanden«, fügte ich hinzu.
    Tony hielt inne. »Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll, so gewöhnt bin ich es, einfach nur zuzuhören. Ich werde euch nun etwas erzählen, was ich noch nie einem anderen Menschen anvertraut habe. Nicht einmal Tyee und ich haben darüber geredet. Noch nie habe ich die Worte laut ausgesprochen. Selbst jetzt bin ich nicht sicher.«
    »Es gibt Dinge, die können wir nicht voraussagen. Manches sperrt sich gegen unsere jämmerliche menschliche Logik«, versuchte ich, ihm Mut zu machen.
    Tony lächelte. »Ein guter Einwand. Tyee hatte ein feines Gespür. Er erahnte es, wenn ein Soldat kurz vor einem Nervenzusammenbruch war. Er wusste, wo der Feind sich versteckte. Die Männer wollten von ihm in den Kampf geführt werden, weil er den sechsten Sinn hatte. Aber es war mehr als nur Instinkt. Viel mehr.«
    »Klingt für mich völlig plausibel«, sagte Tens.
    Ich nickte. Als ich in Tante Merrys Haus herumgekramt hatte, hatte ich Briefe von Tyee gefunden, in denen er meiner Tante von Tens berichtete. Tyee hatte erwähnt, dass seine Visionen verblassten und undeutlicher würden. Vielleicht lag es ja in der Familie. Möglicherweise hatte Tyee andere Visionen gehabt als Tens. Aber es konnte durchaus sein, dass Tens mit der Zeit auch welche entwickeln würde.
    »Du solltest wissen, dass ich deinem Großvater mein Leben verdanke.«
    Ich merkte auf. Damit hatte ich nicht gerechnet.
    »Was?«, fragte Tens.
    »Vietnam. Ich habe mich freiwillig an die Front gemeldet, als wir gerade schwere Treffer einstecken mussten. Ich dachte, unter den Sterbenden und Verwundeten könnte ich Gott und den Menschen am besten dienen. Am Abend davor hat Tyee mich gebeten, mit ihm einen trinken zu gehen. Er begann, mit mir über den Glauben und über Gott zu philosophieren. Es war das tiefsinnigste Gespräch, das ich je über die Religion und das Jenseits geführt hatte. Über den Tod. Den Großteil meiner Zeit verbrachte ich mit Gebeten oder damit, die Beichte abzunehmen. Ich half den Männern, die Päckchen auszupacken, die sie mit sich herumschleppten, um es ihnen zu erleichtern. Tyee stellte mir bohrende Fragen und ließ nicht locker.« Stirnrunzelnd schüttelte er den Kopf. »Er wollte wissen, ob ich bereit sei zu sterben. Das sagte er mit einer sehr ernsten Miene, die mir verriet, dass er damit eine bestimmte Absicht verfolgte.«
    »Und was hast du geantwortet?«
    »Ich habe gründlich darüber nachgedacht und erwidert, ich sei zwar stets auf den Tod vorbereitet, hoffte aber, noch viele Tage auf Erden zu haben, um Gottes Werke tun zu können. Er bat mich, auf dem Rückweg nach den Verwundeten im Lazarett zu sehen. Dort lag ein Soldat mit schweren Verbrennungen, der entsetzliche Schmerzen litt. Er umklammerte meine Hand und flehte mich an, ihn nicht alleinzulassen. Das tat ich, während meine Abteilung abmarschierte. Drei Stunden später starb er. Keiner meiner Kameraden kehrte zurück. Ihre Leichen wurden nie gefunden. Ich hätte es auf den Zufall schieben können, und das tat ich auch wirklich für eine Weile. Allerdings häuften sich diese Ereignisse. Wenn Tyee etwas sagte, hörten die Männer auf ihn.«
    »Das kann ich mir denken.« Tens schmunzelte. »Er hat zwar nicht viel geredet, aber jedes Wort war zwanzig Wörter wert.«
    Ich fühlte mich außen vor und wünschte, ich hätte Tyee gekannt, wenn auch nur deshalb, weil Tens seinem Großvater in vielerlei Hinsicht offenbar sehr ähnlich war.
    »Diese Geschichte erzähle ich euch, damit ihr wisst, dass ich an schwer erklärliche Dinge glaube.«
    »Wir auch«, sagte ich, und Tens nickte zustimmend.
    Tony hielt die Papierrolle und das leuchtende Schraubdeckelglas hoch. »Euer Freund hat mich gebeten, euch das hier zu bringen.«
    Ich erstarrte vor Überraschung.
    »Welcher Freund?« Tens nahm Papierrolle und Glas vorsichtig entgegen und sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
    »Vermutlich haltet ihr mich für verrückt.«
    »Gib uns eine Chance. Lass nichts aus, selbst wenn es sich bescheuert anhört.« Tens’ Miene war angespannt und konzentriert.
    Tony rutschte unruhig herum. »Ich war in Indianapolis, in der Kathedrale Peter und Paul. Sie steht in der Meridian Street.«
    »In derselben Meridian Street wie die hier?«
    Er nickte. »Die Meridian Street führt bis nach

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