Meridian
mich.
Tante Merry seufzte. »Es tut mir weh, wenn ich das sehe. Entsetzlich, einfach entsetzlich.«
»Stellen wurden abgebaut, Fabriken geschlossen, die Bergwerke haben dichtgemacht. Und nachdem es mit der Industrie ein paar Jahre lang den Bach runtergegangen war, sind die Leute weggezogen«, erklärte Tens.
Altmodische Holzhäuser, die an den Wilden Westen erinnerten, standen Seite an Seite mit Backsteingebäuden, errichtet von den ersten Nutznießern eines längst vergangenen Wirtschaftsaufschwungs. Die neuesten dieser Häuser sahen aus, als sei ihre Grundsteinlegung in den Siebzigern erfolgt. Die Farbe blätterte in Streifen von den Fassaden, und die Firmenschilder hingen schief, als hätten Betrunkene sie angebracht. Die Straße war eher eine von unzähligen Schlaglöchern durchsetzte Buckelpiste.
Je mehr wir uns der Stadt näherten, desto häufiger erhoben sich Plakatwände mit dem lächelnden Gesicht von Reverend Perimo am Straßenrand. »Ist der wirklich echt?«, fragte ich, als seine Hollywood-Visage uns zum sechsten Mal zu einem sonntäglichen Stelldichein mit dem Allmächtigen einlud.
»Er hat so etwas an sich«, antwortete die Tante.
»Mir ist der Typ unheimlich.«
»Warum?« Tante Merry drehte sich um und musterte mich forschend.
»Als wir Celia fanden, hat er mich mit Bibelversen bombardiert. Doch sobald Tens aufkreuzte, war er plötzlich die Freundlichkeit in Person.«
»Ich kann den Kerl nicht ab«, knurrte Tens.
»Er kannte meinen Namen, bevor ich mich vorgestellt hatte.«
»Das könnte daran liegen, dass wir hier in einer amerikanischen Kleinstadt sind.« Allerdings schien sie ihre eigenen Worte nicht zu glauben.
»Aber wer weiß denn, dass ich hier bin?«
»Keine Ahnung.«
»Doch er bewirkt auch Gutes für diese Stadt«, fügte sie, wenn auch äußerst widerstrebend, hinzu.
Allmählich wurden die verlassenen Ruinen von frisch gestrichenen, mit weihnachtlichen Lichterketten geschmückten Häusern abgelöst. In jedem Vorgarten standen eine Krippe oder ein Kreuz. Symbole für Hanukkah oder Kwanzaa konnte ich ebenso wenig erkennen wie Weihnachtsmänner. »Wo ist denn der Weihnachtsmann?«
»Der Stadtrat hat entschieden, das Weihnachtsfest wieder ausschließlich Jesus Christus zu widmen.«
»Also kein Weihnachtsmann?«
»Nichts da. Reverend Perimo mischt sich auch in die Politik ein.« Tens spuckte die Worte hervor, als hätte er auf etwas Saures gebissen.
Wohin das Auge blickte, wurde offenbar emsig gebaut und renoviert. Die Farbe wirkte so frisch, dass sie noch feucht zu sein schien. Eine Kolonialwarenhandlung, ein christlicher Buchladen, ein Schönheitssalon. Alles war blitzblank. Die Ladenfronten waren mit künstlichen Weihnachtssternen, Girlanden, den Heiligen Drei Königen und dem Stern von Bethlehem dekoriert.
Eine gewaltige Kathedrale wurde von riesigen Scheinwerfern angeleuchtet wie ein Sportstadion. Ein Kreuz reflektierte das Licht, als wären Millionen von Diamanten darin eingelassen.
»O Mann.« Ich war nicht sicher, ob ich eine Kirche oder ein Casino in Las Vegas vor mir hatte.
»Mehr kann man dazu nicht sagen, was?« Tens grinste mir über die Schulter gewandt zu.
»Wenigstens hat er beim Bau einheimische Arbeitskräfte beschäftigt«, meinte Tante Merry, offenbar um etwas Positives bemüht.
Tens parkte vor einer kleinen Pizzeria, die sich allem Anschein nach in Familienbesitz befand.
»Sieht gemütlich aus.«
»Die beste Pizza in der Stadt.«
Tens blickte mich an.
»Und die einzige«
, flüsterte er. Der Geruch nach Knoblauch und Hefeteig wirkte beruhigend auf mich. Zu Hause hatte es einmal in der Woche Pizza gegeben.
Als wir eintraten, kündigte ein Glöckchen unser Eintreffenan. Ein gedrungener Mann mit Vollbart kam uns, ein breites Lächeln auf dem Gesicht, entgegen. »Ah, Mrs. Fulbright, wie schön, Sie zu sehen. Sie kommen genau zum richtigen Zeitpunkt.« Er legte eine Speisekarte auf den Tisch und ging zur Theke.
»Warum?«, fragte ich, während wir unsere Plätze im hinteren Teil des leeren Restaurants einnahmen. Tens setzte sich neben mich.
»Wenn in einer Stunde die Bibelstunde vorbei ist, kriegt man hier keinen Platz mehr«, erklärte er.
»Oh.«
»Und zwar jeden Abend.«
»Findet die Bibelstunde denn jeden Abend statt?«
»Verschiedene Gruppen, verschiedene Themen, doch die Kirche ist zum Mittelpunkt der Stadt geworden.«
»Das Übliche?«, erkundigte sich der Mann, als er mit drei Gläsern Wasser zurückkehrte.
»Sie kennen mich so gut, Mr.
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