Meridian
Kind.«
Die Leute rutschten unruhig hin und her und murmelten etwas, ohne uns anzuschauen oder die Begrüßung zu erwidern.
»Andrew, Sie sind ja ein richtiger junger Mann geworden. Die Landarbeit tut Ihnen gut«, versuchte sie es weiter. Die Leute taten, als wären wir unsichtbar.
»Die Hälfte von ihnen habe ich entbunden. Die andere Hälfte ist wegen der Kirche hierhergezogen«, erklärte sie uns auf dem Weg zum Landrover.
Zwei der vier Reifen waren aufgeschlitzt. Tens wirbelte herum und spähte in die Dunkelheit.
Tante Merry ließ sich auf den Beifahrersitz sinken. Sie wirkte erschöpft und eingeschrumpft, als wäre sie beim Vorbeigehen an diesen Menschen gealtert. »Die sind längst über alle Berge, mein Junge. Hast du daran gedacht …«
»Ich habe vier Ersatzreifen gekauft, als ich das letzte Mal in der Stadt war. Die Chancen standen nämlich gut, dass wir sie brauchen würden.« Tens zog Mantel und Handschuhe aus.
»Ich helfe dir«, sagte ich, nicht sicher, ob er das Angebot annehmen würde.
»Danke.« Er reichte mir eine Taschenlampe.
Tante blieb im Auto, während ich die Beifahrertür schloss und Tens den Wagenheber holte. »Was sollte das gerade?«
»Deine Tante war jahrzehntelang die Hebamme der Stadt. Früher, bevor zwei Autostunden entfernt das große Krankenhaus gebaut wurde, gab es hier nur einen niedergelassenen Arzt. Sie kümmerte sich um alle Kranken. Und jeder bat sie um Hilfe. Vor etwa sechs Monaten hielten die Kirchenältesten eine Versammlung ab und beschlossen, dass schwangere Frauen in den letzten drei Monaten ihrer Schwangerschaft nicht mehr das Haus verlassen durften. Sie bezeichneten es als verlängerten Mutterschaftsurlaub, um den Familien die Vorbereitung auf den neuen Nachwuchs zu erleichtern. Außerdem verboten sie die Tätigkeit von Hebammen, die nicht im Dienst der Kirche standen.«
»Das ist ja gruselig.« Ich hielt die Taschenlampe, während Tens geschickt den Schraubenschlüssel bediente und den platten Reifen entfernte.
»Dann entschieden sie, dass Frauen sich vor der Geburt einem Reinigungsritual unterziehen mussten. Es wurden immer mehr Vorschriften, die sich nach und nach einschlichen. Nur noch Brot und Saft – die Speisen der Kommunion – in den letzten beiden Wochen. Keine Klimaanlage, denn der Raum müsse Körpertemperatur haben. Keine Schmerzmittel, denn die Frau sei dazu geschaffen, den Geburtsschmerz zu ertragen …«
»Die Liste wurde offenbar von Männern aufgestellt«, schnaubte ich höhnisch.
»Da kannst du Gift drauf nehmen. Jedenfalls wurde deiner Tante ihre Tätigkeit mehr oder weniger untersagt.«
»Wir sind doch hier in Amerika und im einundzwanzigsten Jahrhundert. Ich kapiere das einfach nicht.«
»Ich weiß, dass es verrückt klingt, doch die Mitglieder dieser Kirche sind wie ferngesteuert. Außerdem sind Perimos Handlanger gut darin ausgebildet, seine Regeln als plausibel darzustellen und aus einer Mücke einen Elefanten zu machen. Er besitzt die Fähigkeit, anderen Menschen zu vermitteln, dass sie etwas Besonderes, ja, sogar wichtig sind, und zwar auf eine Art, wie sie mir noch nie untergekommen ist. Er übt erstaunlichen Einfluss auf die Leute aus.«
»Und warum glauben sie, dass Tante Merry die Babys auf dem Gewissen hat?«
»Es gab sieben Frauen, die sich alle etwa im selben Stadium der Schwangerschaft befanden, als die neuen Regeln in Kraft traten. Rose Canary bekam als Erste die Wehen. Da sie nur Brot gegessen hatte und deshalb geschwächt war, zog sich die Geburt eine Ewigkeit hin. Immer wieder verlor sie das Bewusstsein, bis ihr Mannschließlich in Panik geriet und deine Tante anrief. Als wir ankamen, waren Rose und das Baby bereits tot. Ich kann dir sagen, das Schlafzimmer sah aus wie aus einem Geschichtsbuch. Völlig unmodern. Natürlich folgte Perimo uns auf den Fersen und behauptete, Rose sei gestorben, weil ihr der wahre Glaube gefehlt habe. Er fügte hinzu, deine Tante sei eine Ungläubige und arbeite womöglich sogar gegen Gott.«
»Ach, herrje!«
»Die Geschichte wiederholte sich im Oktober auf ähnliche Weise mehrere Male. Ein Frühchen überlebte nur wenige Stunden. Ein Kind wurde schwerbehindert geboren. Eine andere Frau erlitt einen Riss der Plazenta. Jedes Mal wartete die Familie bis zum letzten Moment, bevor sie Hilfe holte. Bald gaben sie der Tante die Schuld und bezeichneten sie als Hexe. Aber es waren immer nur Zufälle. Ich weiß nicht, entsetzliches Pech, der falsche Zeitpunkt. Doch wenn Menschen Angst haben,
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