Meridian
nicht, dass sie im Auftrag der Schöpfer handeln. Die Schöpfer teilen den meisten Fenestrae einen Wächter zu. Gelegentlich handelt es sich dabei um einen Engel, aber in den meisten Fällen sind es Personen, die sich durch besonders viel Tapferkeit, Klugheit, Mut und Anteilnahme auszeichnen. Sie spüren die Gegenwart ihrer Fenestra und können sich in ihre Empfindungen einfühlen.«
»Und weiter?«, bohrte ich nach, weil ich unbedingt mehr erfahren wollte. Ich bemerkte, dass Tens die Röte den Hals hinaufstieg.
»Wenn wir bei dem Bild vom Fenster bleiben, das wir bis jetzt benutzt haben, sind sie die Wände, die dieses Fenster halten, das Gebäude, das es dem Fenster erst ermöglicht, seine Aufgabe zu erfüllen.«
»O mein Gott, dann bist du also der Wächter der Tante, richtig?«, stieß ich hervor. Dabei wurde ich, so unvernünftig es auch sein mochte, von Eifersucht ergriffen.
»Ihrer?« Tens fuhr herum und starrte mich an.
»Nein, mein Kind, er ist deiner.« Sie tätschelte mir die Hand.
»Meiner?« Ich schluckte verdattert.
Tens nickte.
»Dann kannst du doch meine Gedanken lesen?«
Die Tante kicherte. »Nein, kann er nicht. Er erahnt nur deine Stimmungen und Gefühle, versteht aber nicht immer, was er da spürt. Das braucht Übung und Zeit.«
»Wer ist dann dein Wächter?« Es wollte mir noch immer nicht in den Kopf.
Ihre Miene veränderte sich. »Charles war für mich das, was am nächsten an einen Wächter herankam. Mir war nie einer bestimmt worden. Heutzutage sind sie sogar noch rarer gesät als Fenestrae. Und noch seltener sind die, die die Macht besitzen, allein gegen die Dunkelheit zu kämpfen.«
»Oh.«
»Ich habe Appetit auf Peperoni. Tens, mein Junge, kann man die Lasagne auch einfrieren?«
»Klar«, nuschelte er.
»Dann fahren wir in die Stadt. Ich hole nur meinen Mantel. Gebt mir eine Minute.« Wieder strich sie mit den Fingern durch mein Haar. »So hübsch.« Lächelnd ging sie hinaus.
»Du hast dir sicher jemand Besseren gewünscht. Jemanden, der deiner mehr würdig ist?«, fragte ich Tens. Ich war sicher, dass er sich ärgerte, weil er sich anstelle von mir eine Art Superheldin erwartet hatte.
»Nein. Nein!« Er griff nach meiner Hand. »Du warst so traurig. Und einsam. Und verängstigt. Und ich war machtlos dagegen. Ich konnte dir nicht helfen. Ich dachte, eswürde besser werden, wenn du erst einmal hier bist. Und jetzt bist du hier, und trotzdem …«
»… noch immer traurig, einsam und verängstigt?«, gab ich stirnrunzelnd zurück.
»Ich bin wirklich ratlos – du veränderst dich, und ich komme da nicht mehr mit.«
»Ich auch nicht. Offenbar müssen wir da gemeinsam durch.«
»Ich bin fertig!«, rief die Tante von der Eingangstür aus.
Er lächelte. »Ich möchte mich für alles entschuldigen. Deine Haare sehen spitze aus.«
»Das brauchst du nicht. Wir kriegen das hin.« Ich drückte seine Finger und ließ sie dann los. »Wir sollten noch einmal von vorne anfangen.« Ich hielt ihm die Hand hin. »Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Tenskatawa Valdes. Ich bin Meridian Sozu.«
»Woher weißt du das?«
»Was?«
»Wie ich mit vollem Namen heiße.«
Ich reckte das Kinn und tat, als wäre es mein gutes Recht zu spionieren. »Ich habe ein paar alte Briefe gefunden.«
»Briefe?«
»Von deinem Großvater an meine Tante.«
»Wo? Wo hast du herumgeschnüffelt?«
»In einem Zimmer oben. Ich habe eine Schere gesucht. Ich gebe dir die Briefe, wenn wir wieder zu Hause sind, einverstanden?«
Aber es war zu spät. Sein Blick hatte sich wieder verdüstert. Und diesmal war ich schuld daran.
Das ist es, was man uns lehrt. Unser Wissen, unser tiefstes Geheimnis, denn die Wahrheit buchstäblich kennenzulernen macht einen Tod erforderlich. Nicht unseren Tod, sondern den des Suchenden. Niemals unseren, bis das Ende da ist. Also sprechen wir nicht darüber. Wenn geliebte Menschen Abschied von ihren Körpern nehmen & zum ersten Mal in der Lage sind, uns zu sehen, nun, dann ist es zu spät für Erklärungen. Also brennen wir hell & werden zur Tür, zum Weg, der von diesem Leben ins Jenseits führt.
Jocelyn Wynn, 1770–1876
Kapitel 17
Bei meiner Ankunft hatte ich nicht auf die Stadt geachtet. Doch als Farmland und Wildnis von verrammelten Fabriken und verlassenen Vororten abgelöst wurden, erkannte ich, dass ich die kläglichen Überreste einer einst geschäftigen Gemeinde vor mir hatte.
»Was ist denn hier passiert?«, erkundigte ich
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