Meridian
eindeutig eine Schraube locker hatte. Diese fanatischen Hetztiraden würde sicher niemand ernst nehmen. Oder? »Wo liegt das Problem?«
Tante Merry setzte sich mir gegenüber und packte mich an den Handgelenken. »Hier steht mehr oder weniger, dass du Celia umgebracht hast.«
»Was?« Als ich noch einmal nachsehen wollte, verschwammen mir die Wörter auf der Seite vor den Augen. »Sie hatte keine Überlebenschance«, flüsterte ich stockend. »Du hast selbst gesagt, dass sie es nicht geschafft hätte.«
Sie nickte. »Ich bin im Entbindungszimmer nicht mehr willkommen. Carson hat mich aufgefordert, meine Einkäufe in der Nachbarstadt zu erledigen. Billie hat schon seit Mo naten keinen Termin mehr frei, um mir das Haar zu richten.«
»Perimo will dich zum Sündenbock machen.« Tens, deran der Arbeitsfläche gelehnt hatte, fing an, in der Küche hin und her zu laufen.
Verzweifelt versuchte ich zu verstehen, was da gespielt wurde, kam aber nicht ganz mit.
»Laut Auffassung dieses Propheten bin ich eine Dienerin des Teufels.« Sie griff nach der Zeitung und schleuderte sie durch den Raum. Noch nie hatte ich sie so aufgebracht erlebt.
»Das ist doch albern. Solches Zeug glaubt heutzutage kein Mensch mehr«, bemühte ich mich, sie zu beruhigen.
Tens lachte höhnisch auf. »Und wie erklärst du dir dann die ständig aufgeschlitzten Reifen, die Anrufe, die blutigen Kadaver und die Pfeile in der Eingangstür?« Mit hochgezogenen Augenbrauen forderte er mich auf, die einzelnen Punkte miteinander zu verbinden.
Entsetzt versuchte ich, mich, uns drei und mein bisheriges Weltbild zu verteidigen. »Meinst du, dass die Aternocti und die Kirche vielleicht unter einer Decke stecken? Schließlich richten sie beide Unheil in der Stadt an.«
Die Tante dachte eine Weile darüber nach. »Die Aternocti sind angeblich so wie wir. Sie töten nicht, sondern lotsen die Seelen nur zu den Zerstörern, wenn man ihnen die Möglichkeit dazu gibt. Aber inzwischen bin ich nicht mehr so sicher. Ich habe noch nie eine Fenestra getroffen, die eine Begegnung mit ihnen überlebt hat.«
»Und was machen wir jetzt?«
Custos kratzte an der Hintertür und tänzelte lächelnd hinaus, als Tens öffnete.
Tante Merry stand auf und starrte aus dem Fenster. Das Schweigen zog sich hin. »Wir fahren jetzt in die Kirche. Er soll es mir ins Gesicht sagen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich halte das nicht für eine gute Idee.« Mir kam es vor, als würde man eine Kobra reizen. War es in solchen Fällen nicht besser, sich schleunigst aus dem Staub zu machen, bevor man noch gebissen wurde?
»Das finde ich auch«, stimmte Tens mir zu.
Die Tante vollführte eine wegwerfende Handbewegung, als wäre unsere Meinung völlig nebensächlich. »Wenn man einhundertundsechs Jahre alt ist, braucht man sich keine Erlaubnis von Jugendlichen zu holen. Also zieht euch an zum Kirchgang. Und dass ihr mir bloß einen anständigen und gottesfürchtigen Eindruck macht.« Mit diesen Worten rauschte sie hinaus.
»Was trägt ein gottesfürchtiger Mensch denn so?«, fragte ich Tens.
»Vermutlich keinen Pyjama mit Sponge Bob darauf«, antwortete er grinsend und wies mit dem Kopf auf meinen Schlafanzug, bevor er sich einen Apfel nahm und die Küche verließ.
Ich weiß, dass es klingt, als hätte ich nicht mehr alle fünf Sinne beisammen, aber ich bin nicht verrückt, auch wenn mir natürlich die Möglichkeit fehlt, das zu beweisen. Einzig und allein die Seele, die durch mich hindurchgeht, könnte bestätigen, dass ich die Wahrheit sage. Doch leider wird sie anschließend kein Telegramm an ihre Freunde und Angehörige schicken, in dem sie ihnen mitteilt, dass ich nicht übergeschnappt bin. Wenn sie nicht mehr mich, sondern das Licht sieht, hat sie nämlich andere Dinge im Sinn.
Meridian Laine, 13. April 1946
Kapitel 19
Ich zupfte am Saum meiner Schuluniform. Es war mir schrecklich peinlich, zu wissen, dass Tens den Rock gewaschen und jede Falte gebügelt hatte. Außerdem hatte er mir am Vorabend meine Wäsche gebracht, mich keines Blicks gewürdigt und nicht einmal etwas gebrummelt, als ich mein rosafarbenes Höschen mit den aufgestickten silbernen Sternen oben auf dem Haufen gesehen und mich bedankt hatte.
Offenbar hatte niemand Mom mitgeteilt, dass ich mich vor christlichen Fanatikern, die mich für eine Hexe und Teufelsanbeterin hielten, als gottesfürchtig würde präsentieren müssen. Meine Schuluniform und eine alte beige Spitzenbluse, die ich
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