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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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zu erreichen. »Der zweite von oben wird großartig dazu passen.«
    Nachdem Tens die Hutschachtel heruntergeholt hatte, nahm die Tante den Deckel ab, entfernte das vergilbte Seidenpapier und förderte einen anthrazitfarbenen Filzhut mit blauem Satinband zutage. »Bück dich«, befahl sie Tens.
    Er neigte den Kopf und ging in die Knie, bis sie an seinen Kopf herankam. Sie setzte ihm den Hut in einem kecken Winkel auf.
    Ich bekam Herzklopfen und musste mich daran erinnern, das Atmen nicht zu vergessen. Tens sah aus wie ein Star aus einem alten Schwarzweißfilm – ein Gangster, gefährlich und unbesiegbar.
    »Gefällt es dir?«, meinte er zu mir.
    Da mir die Worte fehlten, nickte ich nur.
    »Sehr schneidig«, verkündete Tante Merry und klatschte in die Hände. Dann marschierte sie voraus zum Landrover. »Wenn wir uns nicht beeilen, kommen wir zu spät.«
    Ich versuchte, an Tens vorbeizugleiten, ohne über meine ei genen Füße zu stolpern. Das mit dem Gleiten klappte noch nicht so ganz, aber wenigstens blamierte ich mich nicht.
    »Wollen wir tauschen?«, raunte er mir zu.
    Ich musste ein Lachen unterdrücken. Die Vorstellung von ihm mit dem alten Tüllhut auf dem Kopf ließ ein Kichern aus meinem Magen aufsteigen. »Mit Vergnügen«, sagte ich über die Schulter gewandt, während er die Eingangstür ver riegelte.
     
    Tens bog um die nächste Ecke. Vor uns erstreckten sich vollbesetzte Parkplätze. In der Ferne, vor dem Sangre-de-Cristos-Gebirge, erhob sich die gewaltige Konstruktion aus Beton und Chrom, an der wir am Vorabend vorbeigekommen waren. Das Gebäude hätte für eine Stadt mit der zehnfachen Einwohnerzahl von Revelation ausgereicht. »Ist das eine Kirche oder ein Flughafen?«
    »Ja, ich fand auch schon immer, dass nur noch die Flugzeuge fehlen«, murmelte Tens.
    »Wartet nur, bis ihr das Innere dieses Kolosses seht. Ich habe mich einmal hineingeschlichen, weil ich neugierig war, warum sie so ein Theater darum veranstalten«, meinte Tante Merry und tätschelte mir die Schulter.
    Als wir rechts abbogen, schien die Welt plötzlich heller zu werden. So, als wäre die Sonne aufgegangen und hätte diese Straße in einen glücklicheren Ort verwandelt.
    »Ich setze euch ab und suche einen Parkplatz«, sagte Tens zur Tante.
    »Du brauchst nicht …«
    »Doch.« Er schlängelte den Wagen zwischen Fußgängern durch, die alle lächelten und lachten, als seien sie unterwegs zu einer Party, nicht in die Kirche. Die Hüte, Schleier und Pumps der Frauen passten zu den dreiteiligen Anzügen und blankpolierten Schuhen der Männer.
    Tens stoppte in der Aussteigezone. Ich öffnete meinen Sicherheitsgurt. »Mach dich auf alles gefasst«, meinte er zu mir und wandte dann den Blick ab, als wolle er noch etwas hinzufügen, wisse aber nicht, wie.
    »Komm, Kind. Hinein in die Höhle des Löwen.«
    Ich öffnete die Tür und hielt meine Tante am Arm, um ihr über die Schneehaufen und Eispfützen am Straßenrand zu helfen. Dabei stellten sich mir die Nackenhaare auf.
    Tens sah mir in die Augen, doch ich konnte ihren Ausdruck nicht deuten. »Ich komme gleich nach.«
    Ich nickte und griff nach ihrer behandschuhten Hand.
    »Wir warten hier auf Tens«, sagte sie und tätschelte mich.
    Bei unserem Anblick schienen die angeregten Gespräche schlagartig zu verstummen. Ein Mann, den ich nicht kannte und der ein prächtiges reinweißes Gewand trug, stand in der Tür und begrüßte jeden Neuankömmling persönlich. Währenddessen beugte er sich zu einem anderen Mann hinüber, der etwas flüsterte und auf uns wies.
    »Reden die über uns?«, erkundigte ich mich und errötete verlegen.
    »Wir wollen hallo sagen.« Ohne auf meine Frage einzugehen, marschierte sie auf den Mann zu.
    »Muss das sein?«, murmelte ich.
    »Jack, wie nett, Sie hier zu sehen. Darf ich Ihnen meine Nichte Meridian vorstellen?« Sie wandte sich an mich. »Jack und seine Frau Nicole haben sechs reizende Kinder, die ich alle entbunden habe. Der Älteste fängt nächstes Jahr mit dem College an. Wie geht es Ihren Kindern, Jack?«
    »Gut. Schön, dass Sie gekommen sind, Merry. Wir beten jeden Abend vor dem Abendessen für Ihre Seele.«
    »Das ist aber freundlich von Ihnen.« Sie berührte seinen Arm und achtete nicht darauf, dass er zusammenzuckte. »Haben Sie schon Arbeit gefunden?«
    »Der Reverend hat mir geholfen, eine Stelle an der High-school zu bekommen.«
    Ich tat, als nähme ich das Getuschel und die Blicke der Leute nicht wahr, die alle einen großen Bogen um uns

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