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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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in einem Schrank gefunden hatte, waren deshalb das Konservativste, was ich auftreiben konnte. Ich zog ein paar dunkelgrüne Leggings an. Meine Strumpfhose war nämlich total zerrissen – und »gottesfürchtig« schloss ganz sicher keine nackten Knie ein.
    Als ich die Treppe hinunterkam, hatten wir noch eine Viertelstunde Zeit. Gut, dass ich die Hand am Geländer hatte, denn ich hätte den Mann im Anzug, der mir den Rücken zukehrte, beinahe nicht erkannt. Ach, herrje, Tens machte wirklich eine gute Figur. Der Anzug bestand auseinem schimmernden schwarzen Stoff mit anthrazitfarbenen Nadelstreifen. Vielleicht waren die Hosenbeine ein wenig zu kurz und die Ärmel dafür ein Stück zu lang. Er stand vor dem Spiegel im Flur und nestelte an seiner Krawatte herum. Offenbar bemerkte er mein Spiegelbild, denn er erstarrte fluchtbereit wie ein Kaninchen, das Gefahr witterte.
    Außerdem hatte er sich die Haare geschnitten, so dass sie sich hinter die Ohren stecken ließen. Als er mich im Spiegel beobachtete, konnte ich seinen Gesichtsausdruck nicht deuten – verschlossen, argwöhnisch und möglicherweise auch ein wenig ängstlich.
    »Hübsch.« Ich schluckte den Begeisterungssturm hinunter, der mir auf der Zunge lag.
    Er brummte etwas und fuhr fort, seine Krawatte zu misshandeln.
    »Warte, ich helfe dir.« Ich streckte die Hand danach aus. »Ich muss sie an mir binden, aber dann kannst du sie dir umhängen.«
    Er hielt inne und dachte über mein Angebot nach.
    »Los, gib schon her. Mein Dad hat es mir beigebracht.« Einer der wenigen Momente zwischen Vater und Tochter, an die ich mich erinnerte.
    Widerstrebend reichte Tens mir die graue Seidenkrawatte, die nach Zedernholz roch. Als ich mir sie um den Hals legte, versuchte ich nicht auf die Hitze zu achten, die sie abstrahlte. Ich schloss die Augen, stellte mir die einzelnen Schritte nacheinander vor und hoffte, dass ich mich nicht blamieren würde.
    Mit einem letzten Ruck band ich den geradesten Knoten meines Lebens, zog mir die Krawatte über den Kopf undreichte sie Tens. Dieser brummelte wieder etwas, streifte sie sich über, zog den Knoten fest und rückte ihn gerade. Dann strich er seinen gestärkten weißen Kragen glatt, verfehlte aber die Stelle, die sein Haar berührte. Ich streckte die Hand aus, bog den Kragen nach unten und spürte, wie sein Haar über meine Finger glitt und wie er unter meiner Berührung erstarrte.
    »Also, los geht’s«, hörten wir Tante Merrys Stimme vom Kopf der Treppe her.
    Ich machte einen Satz rückwärts, als wäre ich bei etwas schrecklich Unanständigem ertappt worden.
    »Danke«, nuschelte er und wich zurück. Ich glaube, er wurde sogar rot.
    Als ich mich zu Tante Merry umdrehte, erwartete ich eigentlich nur eine kleine Steigerung ihrer sonst makellosen Eleganz. Aber mir blieb der Mund offen stehen.
    Sie trug ein traumhaftes Kostüm aus violettem Samt, hielt sich wie die Königin von England, und sicher hätte ihre Aufmachung auch den Beifall von Queen Elizabeth gefunden. Mehrere Unterröcke lugten unter dem bauschigen Rock hervor. Eine enganliegende Jacke betonte ihre zierliche Figur und den Busen, von dessen Existenz ich bis jetzt gar nichts geahnt hatte. Selbst Custos wirkte verdattert.
    Sie strich ein Paar weißer Handschuhe glatt und reichte mir ein anderes. Dann setzte sie mir einen marineblauen Pillbox-Hut mit passendem Schleier auf den Kopf und rückte ihn zurecht. »Den trägst du am besten auch.«
    »Muss ich …«
    »Ja, du musst. Schließlich will ich mir von diesen Frömmlern nicht nachsagen lassen, dass ich gegen ihre Sitten und Gebräuche verstoße.«
    »Laufen sie tatsächlich mit Handschuhen und Hüten herum?«
    Sie bedachte mich mit einem strengen Blick und schlang sich einen dicken Schal um den Hals. »Hast du je von einer Religion gehört, die die Nacktheit predigt? Du brauchst nicht zu antworten. Sie verlangen, dass man sich verhüllt, also tun wir es.«
    Ich hatte eher das Gefühl, dass ich das einzige weibliche Wesen unter achtzig Jahren sein würde, das sich mit einem Schleierhut und Handschuhen vermummte. Aber schließlich war die Tante hier der Boss.
    »Wie du meinst«, erwiderte ich mürrisch und schaute mit Absicht nicht in den Spiegel.
    Tens schlüpfte in einen gut eingetragenen schwarzen Trenchcoat aus wundervoll weichem Leder.
    »Er steht dir fast so gut wie meinem Charles.« Tante Merry öffnete einen Wandschrank und wies auf eine Reihe von Hutschachteln auf dem obersten Regal. Sie war viel zu klein, um es

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