Meridian
machten.
»Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden. Ich muss mich um die anderen Besucher kümmern.« Jack wandte sich ab, bevor der Satz beendet war.
»Kennst du all diese Menschen?«, wollte ich von meiner Tante wissen.
Sie nickte, sah mich allerdings nicht an. »Früher einmal. Dann haben sie beschlossen, dass es das Risiko nicht wert ist, weiter Umgang mit mir zu pflegen. Oder sie sind neu zugezogen, um die Stadt von Leuten wie mir zu säubern«, beantwortete sie meine unausgesprochene Frage. »Ach, da kommt ja dein junger Galan.« Sie lächelte Tens entgegen.
»Oh, er ist nicht …«
»Natürlich ist er das.« Sie kicherte.
Als Tens mit seinem langen Trenchcoat und dem elegantenHut auf uns zumarschierte, konnte ich fast ein Grinsen in seinen Augen erkennen. Er bot der Tante den Arm. »Wollen wir?«
»Ja danke.« Sie hakte sich unter, und kurz konnte ich einen Blick auf die junge Frau erhaschen, die sie mit ihrem Charles gewesen war.
Ich folgte ihnen und stellte fest, dass meine Hände zitterten.
Tens griff nach meiner Hand und verschränkte die Finger mit meinen. »Ich bin für dich da«, sagte er.
Ich nickte, wusste jedoch nicht, warum es mir vor Angst den Magen zusammenkrampfte. Während wir durch die breiten Flure schritten, blieb mir einige Male der Mund offen stehen. Die Buntglasfenster stellten Szenen aus der Bibel dar, und aus einer riesigen Orgel ertönten Kirchenlieder. Das Gebäude und die Menschen hier sorgten dafür, dass ich mich sehr klein fühlte.
Kapitel 20
Der Platzanweiser, der die Programme verteilte, strafte uns mit Nichtachtung, obwohl meine Tante ihn direkt ansprach. »Schön, Sie zu sehen, Devlin. Ich hoffe, Ihre Kinder sind bei guter Gesundheit?« Wir blieben nicht stehen, sondern marschierten einfach an ihm vorbei.
Ich blickte starr geradeaus, als Tante Merry uns den Mittelgang des Allerheiligsten entlangführte. Der Altarraum war gewaltig und mit riesigen Orgelpfeifen und einer durchsichtigen Kanzel ausgestattet, die über der Gemeinde zu schweben schien. Ich wusste schon jetzt, dass ich nach dem Gottesdienst sicher Genickschmerzen haben würde.
Kurz summte eine Fliege an meinem Ohr und verstummte dann, als sie tot hinter mir zu Boden stürzte. Ich betete, dass sich keine todkranken Menschen in dieser Kirche aufhielten.
Leises Raunen und Tuscheln und ein Knarzen, als die Leute in ihren Kirchenbänken herumrutschten, folgten uns. Offenbar war die ganze Stadt gekommen.
»Vermutlich rechnen sie damit, dass ich jeden Moment in Flammen aufgehe.« Tante Merry schüttelte tadelnd den Kopf. »Mit Ausnahme von einigen wenigen sind alle hier, die ich kenne.«
Vor einer halbleeren Sitzreihe blieb sie stehen und bedeutete mir, mich zu setzen. Weil ich Tens’ Hand nicht loslassen wollte, hielt ich sie weiter fest. Ich klammerte mich daran, während eine Mutter mit drei kleinen Kindern hastig zum anderen Ende der Bank rutschte und sich einige Reihen weiter nach hinten setzte.
Die vertrauten Klänge eines Lieds aus der Sonntagsschule hallten aus den gut versteckten Lautsprechern um uns herum. Bei jedem Liederwechsel steigerte sich die religiöse Verzückung. Die ganze Gemeinde sang, klatschte in die Hände und tanzte. Obwohl einigen bald der Schweiß auf dem Gesicht stand, ging der Gesang immer weiter.
Als die Menge einen Jubelruf ausstieß, drehte ich mich um. Reverend Perimo und einige Männer in langen Gewändern, die den Gang und das Aussehen von Leibwächtern hatten, kamen in der Formation eines umgekehrten V das Kirchenschiff entlang.
Tante Merry beugte sich über Tens hinweg. »Das sind seine zwölf sogenannten Jünger«, meinte sie zu mir.
Die letzten drei, einschließlich Perimo, waren übernatürlich attraktiv und erinnerten mich an die »Danach-Fotos« eines guten Schönheitschirurgen.
Reverend Perimo marschierte an der Spitze des V und ließ die Energie im Raum auf sich wirken. Er blieb stehen, um Menschen zu begrüßen, und berührte auf seinem Weg den Gang hinauf die Hände einiger weniger Glücklicher. Als er unsere Sitzreihe erreichte, wurde sein Schritt nicht langsamer. Er verbeugte sich nur vor der Tante und bedachte mich mit einem gleichzeitig tückischen und verschwörerischen Lächeln. Ich wusste nicht, ob es sich um eine freundliche Geste oder um eine Kriegserklärung handelte,hatte aber den Verdacht, dass ich das sicher bald herausfinden würde.
Als die Musik verstummte, sprach Perimo in das winzige, fleischfarbene Mikrofon in seiner Hand. »Ich
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