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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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Nirwana, die Erleuchtung, den Himmel zu führen. Menschen haben viele Namen dafür, doch eigentlich ist es immer dasselbe. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit, aber sie wird allmählich knapp.«
    »Warum?«, stieß ich hervor. Die Tante würde mir mehr fehlen, als ich es je für möglich gehalten hätte. Am liebsten hätte ich die Uhr angehalten.
    »Heißer Kakao.« Tens erschien mit einem Tablett, das er vor Tante Merry hinstellte.
    Während wir schweigend tranken, behielt ich Custos im Auge.
    »Tens, du solltest das auch wissen. Habt ihr schon einmal von Atlantis gehört? Den Azteken? Den Osterinseln? Gede in Kenia?« Die Stimme der Tante klang inzwischen kräftiger.
    »Untergegangen?«, mutmaßte ich, da mir einige der Namen aus dem Tagebuch bekannt vorkamen.
    »Alles das Werk der Aternocti, weil wir zu wenige waren, um uns die Energie endgültig zurückzuerobern.«
    »Und was soll ich dagegen tun?«
    »Wir.« Tens zupfte mich am Haar, so dass ich lächeln musste.
    Ohne Vorwarnung nickte Tante Merry plötzlich ein. Das Kinn sank ihr auf die Brust, und die Tasse rutschte ihr aus der Hand. Das Geräusch, als sie auf den Boden prallte, ließ sie hochschrecken. »Ach, herrje.«
    »Kein Problem.«
    »Wir reden morgen weiter, einverstanden?« Sie standauf. »Tens, kannst du mir bitte den Stock holen, der neben der Tür lehnt? Ich glaube, den brauche ich heute.«
    »Ich trage dich.« Tens nahm sie auf die Arme. Ich folgte ihm nach oben in ihr Schlafzimmer.
    »Sie hat Fieber«, flüsterte ich Tens zu, als ein Schauder Tante Merry und das Bett erbeben ließ. »Ich glaube, Aspirin reicht hier nicht. Wir sollten einen Arzt rufen.« Ich versuchte nicht, meine Besorgnis zu verhehlen.
    »Wir besprechen das draußen, Meridian.« Als Tens mich zur Tür winkte, schlug die Tante die Augen auf.
    »Ihr braucht nicht über mich zu reden, als sei ich nicht mehr bei Verstand. Ich weiß, dass ich nicht mehr lange zu leben habe, schon vergessen? Kein Arzt. Ich will einfach nur schlafen. Ein paar Tage bleibe ich euch noch erhalten.« Sie wurde von einem Hustenanfall geschüttelt.
    Ich warf Tens einen Blick zu. Er bückte sich, um einen der Heizstrahler zu überprüfen, und zuckte dann mit den Achseln. »Bist du sicher? Vielleicht kann ein Arzt dir ja helfen.«
    Sie tätschelte mir die Hand. »Keine Sorge, du leuchtest noch nicht. Es ist noch nicht Zeit.« Sie umklammerte meine Hand mit einem Schraubstockgriff. »Versprich mir, dass ich nicht in einem Krankenhaus sterben werde. Versprich es mir.« Ihre Haut war trocken, schuppig und glühend heiß.
    »Ich glaube nicht …«
    »Versprich es mir!« Panik stand in ihren weit aufgerissenen Augen.
    Ich fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. »Ich verspreche es«, flüsterte ich, wobei ich mich fragte, ob es überhaupt eine schwierigere Aufgabe gab.
    Dann durchsuchte ich die Stapel von Steppdecken nach der wärmsten und weichsten. Alle waren ordentlich mit Rauten, Bäumen, Kreisen oder Streifen verziert. Einige waren kunstvoll gearbeitet wie Gobelins und stellten Szenen dar, die an die alten Stickbilder in Museen erinnerten. Winzige Gesichter aus kleinen braunen, beigen und cremefarbenen Stoffstücken. Tiere und Landschaften. Stiche, so fein, dass ich sie nicht sehen konnte. Samt und Brokat, Leinen und glatte Baumwolle. Muster wie bei einem Sari. Batik. Japanische Seide und dunkler Jeansstoff. Schneeflocken und Sonnenschein, Regenbogen und Flüsse.
    »Verschwindet, ich möchte schlafen.« Nachdem wir sie zugedeckt und uns vergewissert hatten, dass ein Glas Wasser in Reichweite stand, schnarchte sie schon.
    »Ich bleibe heute Nacht bei ihr.«
    Ich betrachtete Tens. »Du siehst auch ziemlich erledigt aus. Ist alles in Ordnung?«
    »Bestens. Warum schaust du nicht nach Custos und legst dich dann aufs Ohr?«
    Ich nickte und beobachtete, wie er sich neben dem Bett der Tante auf dem Boden niederließ.
    »Bist du …«
Sicher?
    »Geh.« Tens zog die Stiefel aus und schloss die Augen.

Kapitel 24
     
     
    Ich legte mich neben Custos aufs Sofa. An ihre nächtlichen Geräusche hatte ich mich inzwischen gewöhnt. Lange konnte ich nicht einschlafen, und als ich es schließlich doch tat, hatte ich einen Traum.
    Ich träumte von der einzigen Urlaubsreise, die meine Familie je unternommen hatte – ausgerechnet nach Australien. Wahrscheinlich hofften meine Eltern, auf diese Weise dem Tod davonlaufen zu können, der sich an mich heftete wie ein siamesischer Zwilling.
    An unserem ersten Tag in Australien

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