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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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sinken.
    »Ausgezeichnet.« Tante Merry schmunzelte. »Dein Großvater wäre stolz auf dich gewesen, Tens. Du bist ein tüchtiger Sanitäter.«
    »Hast du ihn gut gekannt?« Tens schien erschrocken.
    Tante Merry kicherte. »Natürlich kannte ich deinen Großvater. Oder glaubst du, er hat dich zum Spaß hierhergeschickt?«
    »Ich habe immer tiefer liegende Gründe dahinter vermutet und gedacht, er wollte mich an einem bestimmten Ort wissen, nicht bei einer bestimmten Person.«
    »Es ging ihm um den Ort. Das hier sollte die nächste Etappe deiner Reise werden. Mütterlicherseits stammst du nämlich von vielen Generationen von Wächtern ab. Aber wenn ich mich an Tyees Schwäche für die Damenwelt erinnere, wage ich zu behaupten, dass es ihm auch auf die Person ankam.«
Meint sie mich? Will das Schicksal, dass wir zusammenbleiben?
Auch wenn ich noch so viel für Tens empfand, hatte ich für vorherbestimmte Beziehungen nicht viel übrig.
    Tens’ Gesicht nahm einen reizenden Rotton an, und er starrte auf den Teppich. »Weißt du etwas über meine Eltern? Meinen Vater? Meine Mutter?«
    »Nein, nicht viel, tut mir leid. Dein Großvater sprach nicht gerne über sie. Dein Vater war ein illegaler Einwanderer aus Kuba. Deine Mutter war noch zu jung und hat die Geburt nicht überlebt.«
    Sie wandte sich zu Custos um. »Sie schläft heute Nacht hier. Wir werden ihr später ein wenig Brühe geben undhoffen, dass sie sie trinkt. Und jetzt habe ich Lust auf einen echten heißen Kakao. Sonst noch jemand? Habe ich euch schon von den Marshmallows erzählt, die meine Großmutter im Winter immer gemacht hat?« Beim Gedanken an diese Köstlichkeit ihrer Kindheit zeichnete sich Verzückung auf ihrem Gesicht ab.
    Offenbar erleichtert über den Themenwechsel, sprang Tens auf. »Ich kümmere mich darum.«
    »Liebst du ihn?«, fragte Tante Merry, als er draußen war. Sie schob sich das Haar aus der Stirn und wischte sich mit dem Zipfel einer Steppdecke die Wangen ab.
    »Woher soll ich das wissen?« Ich biss mir auf die Lippe und wagte nicht, mich zu Gefühlen zu bekennen, deren ich mir selbst noch nicht ganz sicher war.
    »Das ist bei jedem anders. Bei mir und Charles waren es die kleinen Dinge. Ich konnte meine Fähigkeiten ausleben, ohne mich dafür entschuldigen zu müssen, eine Fenestra zu sein. Er nahm mein Schicksal einfach an, selbst als ich mein Versprechen an ihn nicht gehalten habe.«
    »Was für ein Versprechen?« Wieder bemerkte ich aus dem Augenwinkel einen vertrauten Schatten.
    »Ich hatte ihm versprochen, in der Stunde seines Todes für ihn da zu sein, damit er durch mich den Himmel sehen kann.«
    »Woher hättest du den genauen Moment wissen sollen?«
    »Ich hätte eben müssen. Ein Arzt war bei ihm. Er sagte, er sei friedlich gestorben. Aber er wird mich nach diesem Leben nicht erwarten. Davon bin ich überzeugt.«
    Der seltsame Geruch nach Pfeifenrauch wurde stärker. »Riechst du das auch?«
    »Was, mein Kind?«
    Ich schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nur Einbildung.«
    »Wenn du ihn liebst oder glaubst, ihn zu lieben, bleib bei ihm. Euer Schicksal ist miteinander verknüpft. Zwischen euren Entscheidungen besteht ein Zusammenhang. Davon bin ich überzeugt.«
    »Aus welchem Grund?«
    »Der Glaube.«
    »An Gott?«
    »Die Schöpfer haben viele Namen, im Singular und im Plural. Ihre Namen sagen mehr über die Menschen und die Zeiten aus als über die Schöpfer an sich.«
    Ich fragte mich, wann sie die Kristallkugel hervorholen und anfangen würde, Beschwörungsformeln zu murmeln.
    Sie lachte auf. »Du hältst mich wohl für ein verrücktes altes Weib.«
    »Nein.« Allerdings klang das ziemlich halbherzig.
    »Doch. Das weiß ich, weil ich damals selbst fand, dass meine Großmutter eine Schraube locker hatte.«
    »Wirklich?«
    »Natürlich. Aber dann begann ich, genau zuzuhören, hinzuschauen und meine Umwelt aufmerksam zu beobachten. Nach dem Tod meiner Mutter wohnte meine Großmutter bei uns. Sie war eine Fenestra und hat uns die Geschichte gelehrt, damit wir sie weitergeben konnten. Götter sind männlich und weiblich, weil der Mensch nicht über diese Kategorien hinausdenken kann. Die Energie hingegen hat kein Geschlecht. Oder betrachtest du eine Batterie etwa als Mann oder Frau? Nennst du deine Glühbirnen Fred und Ginger? Nein, Energie ist zeitlos, gesichtslos und geschlechtslos.«
    Ich nickte.
    »Meridian, du bist etwas Besonderes. Du hast vom Schöpfer das größte Geschenk von allen bekommen, die Gabe, Seelen ins

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