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Meridian

Titel: Meridian Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amber Kizer
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entdeckte ich ein noch unangebrochenes Päckchen Speckstreifen, die ich in eine Bratpfanne gab.
    Als Tante Merry mich plötzlich von hinten ansprach, zuckte ich zusammen. »Guten Morgen, Kleines.«
    »Das müsst ihr beide euch unbedingt abgewöhnen!« Ich stellte die Teetasse vor sie hin. »Wie fühlst du dich?«
    »Viel besser. So frisch und munter wie der junge Morgen.«
    Obwohl ich ihr das nicht ganz abnahm, verhinderte ihre Miene, dass ich weiter nachhakte. Also nickte ich und beschloss, ihr Spiel mitzuspielen, bis sich wieder eine Gelegenheit ergab, ihr einen Krankenhausaufenthalt vorzuschlagen. »Hast du Hunger?«, fragte ich.
    »Wie ein Wolf.«
    »Ich auch.« Ich grinste, als Tens barfuß hereinkam. Er trug ein abgewetztes T-Shirt und Jeans mit Löchern an den Knien.
    »Riecht lecker.« Er lehnte sich an die Arbeitsfläche, griff nach einem Apfel und biss hinein.
    »Der Junge hat immer Hunger.« Tante Merry kicherte. »Ich habe eine Idee. Wir sollten zur Thermalquelle am Ende der Straße fahren und mal so richtig ausspannen.«
    »Thermalquelle?«, wunderte ich mich.
    »Es ist wunderschön dort. Unter freiem Himmel und genau die richtige Temperatur. Außerdem eine Wohltat für Körper und Seele. Ich war schon seit Jahren nicht mehr dort. Keine Ahnung, warum, denn sie gehört zu meinen Lieblingsplätzen auf der Welt.« Ihr Gesichtsausdruck wurde wehmütig.
    »Dann sollten wir es tun«, sagte Tens.
    »Klar.« Ich nahm ein paar Pfannkuchen aus der Pfanne, legte noch einige Speckstreifen auf den Teller und stellte ihn meiner Tante hin. »Hau rein.«
    »So viel kann ich unmöglich essen.«
    »Versuch es wenigstens. Falls etwas übrig bleibt, hilft der menschliche Staubsauger hier dir sicher gerne dabei.« Ich kicherte beim Anblick von Tens’ gespielter Empörung.
    Dann tat ich Tens und mir etwas auf, und wir verspeisten in gemütlichem Schweigen unser Frühstück. In der Küche herrschte eine friedliche Stimmung, eine Ruhe wie seit meinem Geburtstag nicht mehr. Erschrocken kam ich zu der Erkenntnis, dass sich so vermutlich Glücklichsein anfühlte.
    Nach dem Essen stiegen wir in den Rover, und die Tante lotste uns zu den Thermalquellen. Ich hatte mir einen ihreraltertümlichen Badeanzüge, bestehend aus Shorts und einem langärmeligen Oberteil, ausgeliehen. Vermutlich hätte ich in einem Taucheranzug mehr Haut gezeigt, aber das war mir gleichgültig.
    Sie wirkte so jung, frei und glücklich und erinnerte mich an die Moorhühner, die ständig um uns herumflatterten. Diese Vögel passten sich der jeweiligen Jahreszeit an, waren momentan winterweiß und stets in vollkommenem Einklang mit der Welt.
    Wir spritzten einander nass, ließen uns treiben und testeten alle Becken. Außer uns war niemand da.
    »Ich bin so froh, dass wir hergekommen sind.« Tante Merry kuschelte sich an mich und schaute zum Himmel hinauf. Ihr Blick war so eindringlich, dass ich mich fragte, ob sie mit bloßem Auge die Ringe des Saturn erkennen konnte. »Alles verändert sich, Meridian. Alles ist vergänglich, bis auf den Himmel. Wenn du dich in die Schrecken oder die Heldentaten des Lebens verstrickt fühlst, sieh nach oben, nicht nach unten. Unter unseren Füßen befindet sich alles in Bewegung, aber der Himmel ist solide, immer gleichbleibend und bereit, und es steht fest, dass morgens die Sonne und abends der Mond aufgeht. Untergehen tun sie eigentlich nie, immer bloß auf, nur eben für jemand anderen.«
    »Richtig.« Ich hielt Ausschau nach Tens, der gerade die Handtücher aus dem Auto holte. Sie und ich waren mit diesem Moment allein.
    »Auch das hier wird nicht von Dauer sein. Jetzt geht für dich die Sonne auf. Ich muss nur noch die Steppdecke fertignähen. Gelbe Baumwolle für die erste Liebe, Stahlblau für den Fami lienstammbaum. Ich glaube, du brauchst dasleuchtende Rot jugendlicher Leidenschaft. Ich habe es ganz vergessen. Es ist so lange her, dass ich sechzehn war.«
    Ich schluckte. Für mich waren die Geschichten in den Stoffstücken, die sie ausgesucht und mit chirurgischer Präzision zusammengeheftet hatte, unvorstellbar. Also beschloss ich, ihr die Frage zu stellen, die mich schon seit längerem beschäftigte. »Tante, was ist mit den Seelen, die nicht gehen wollen?«
    »Sie werden entweder von denen hinübergetragen, die sie im Jenseits erwarten, oder sie bleiben hier bei den Menschen, die sie nicht allein zu lassen wagen.«
    »Und wenn keine von uns zugegen ist, was passiert dann?«
    »Wiedergeburt. Der Kreislauf beginnt von

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