Merkels Tochter. Sonderausgabe.
Fingerabdrücke oder sonstigen Beweisen, er brauchte nicht mal ein Geständnis. Ihm genügten siebzehn Stiche mit dem Dolch. Um sie dann in der Gießerei liegen zu lassen. Wenn Ohloff ihn erst zu ihrer Adresse gefahren hatte.
Aber es wurde nichts aus seinem Plan. In der Ambulanz des Krankenhauses kümmerte sich ein blutjunger Arzt um seinen verletzten Arm. Der Arzt bestand darauf, ihm eine Betäubungsspritze zu geben, bevor er die Nadel ansetzte. Und obwohl es sich angeblich nur um eine Lokalanästhesie handelte, wurde Merkel gleich danach furchtbar übel. Er musste sich hinlegen, ehe der Arzt nähen konnte.
Kurt blieb bei ihm und erkundigte sich zum ersten Mal, wo und wie er sich den Schnitt eingehandelt hatte. Merkel erzählte auch ihm von den beiden Halbstarken. Kurt riet ihm, Anzeige zu erstatten, verlangte ihm Einzelheiten des angeblichen Überfalls ab, Ort, Zeit, Aussehen der Angreifer. Vielleicht wollte er ihn mit der Fragerei nur ein wenig ablenken, damit er nicht unentwegt auf die Hände des Arztes schielte – und dabei vielleicht seine Hose in Irenes Händen sah.
Allein die Vorstellung, wie sie da in ihrer Küche saß, so arglos und vertrauensselig, immer hilfsbereit, auch wenn eine völlig Fremde vor ihrer Tür stand. Obwohl sie ihren Mann im Verdacht gehabt hatte, war sie wohl nicht darauf gekommen, seine Freundin vor sich zu haben. Und dann hinter sich – mit einem Hammer in der Hand.
Nachdem die Prozedur endlich überstanden war, bekam er noch ein Rezept für ein Schmerzmittel in die Hand gedrückt und wurde für den Samstag zum Verbandswechsel bestellt. Kurt fuhr bei einer Apotheke vorbei, löste das Rezept ein, brachte ihn heim und bestand darauf, dass er sofort zwei von den Tabletten nahm.
«Ich wusste ja nicht, dass es so schlimm ist mit deinem Arm. Sonst hätte ich dich doch nicht so lange festgehalten. Warum hast du denn nichts gesagt, Hein? Du musst doch nicht unbedingt den Helden spielen.»
So schlimm, wie Kurt meinte, war es gar nicht. Ohloffs Bein war viel schlimmer, und der konnte nicht einmal eine Hand rühren. Als Merkel sich daranmachte, Kaffee aufzubrühen, wurde Kurt energisch und kehrte den zwar jüngeren, aber längst größeren Bruder heraus. «Jetzt ist Schluss, Hein. Du legst dich sofort hin.»
Merkel tat ihm den Gefallen. Und im Liegen fiel ihm auch ein, dass Irene noch leben würde, wenn Ohloff nicht so feige gewesen wäre. Er versuchte noch, sich das vorzustellen. Sie neben dem Tisch auf dem Boden liegend, Ohloff bei der offenen Küchentür, das Weib hinter der Tür. Ohloff, dieses feige Schwein, drehte sich auf dem Absatz um und stürmte aus dem Haus.
Er musste die Augen schließen, weil es unvermittelt so sehr schmerzte, nicht im Arm, nur in der Kehle und in der Brust. Und er dachte, mit der Nacht in der Gießerei käme Ohloff noch glimpflich davon. Wenn ihm das Bein noch ein paar Tage lang Beschwerden machen sollte, vergaß er wenigstens nie, dass er sich wie eine feige Sau benommen hatte.
Er blinzelte ins Licht. Kurt saß am Tisch und lächelte so sanft, wie nur seine Mutter es gekonnt hatte. «Schlaf ein bisschen, Hein», sagte Kurt und begann zu singen: «Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf mein Fuß, hat ein Zettel im Schnabel, von der Mutter einen Gruß. Auf dem Zettel steht geschrieben: Hab dich lieb, kleiner Schatz, und wo ich auf dich warte, da ist noch so viel Platz. Lieber Vogel, flieg weiter, nimm ein Gruß mit und ein KUSS, denn ich kann dich nicht begleiten, weil ich hier bleiben muss.»
Merkel war völlig sicher, dass Kurt das Lied sang, um ihn zum Einschlafen zu bewegen. Auch wenn Kurt die zweite Zeile gar nicht kennen konnte, seine Lippen nicht auseinander brachte und seine Stimme verdächtig nach der seiner Mutter klang. Merkel konnte nicht bleiben. Er musste zur Gießerei. Und zum Dienst. Und vorher den Hund noch abholen. Und mit Leo durch die schwach beleuchteten Passagen schlendern. Ein guter Hund, der Leo, wusste genau, wo die Kontrolluhren waren, die Merkel drücken musste.
Ihm war so entsetzlich kalt. Ein eisiger Winter umfing ihn. Für ein paar Sekunden saß er neben seiner Mutter im Schnee, fror entsetzlich und hatte eine noch entsetzlichere Angst, rüttelte sie an der Schulter, bettelte und jammerte:
«Steh auf, Mama, steh doch auf.»
Und die anderen aus dem langen Treck zogen an ihm vorbei. Manchmal streifte ihn ein Blick, teilnahmslos, weil sich in diesem Elend nur jeder selbst der Nächste sein
konnte. Und plötzlich die
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