Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Merkels Tochter. Sonderausgabe.

Merkels Tochter. Sonderausgabe.

Titel: Merkels Tochter. Sonderausgabe. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hammesfahr Petra
Vom Netzwerk:
Hand, die ihn hoch zerrte und in die lange Reihe der Hoffnungslosen eingliederte. Es war eine ältere Frau, mit einem Wolltuch um den Kopf, das sie tief in die Stirn gezogen hatte. Auch Mund und Nase hatte sie damit bedeckt. Und trotzdem hatten sich auf ihren Augenbrauen Schneeflocken verfangen, waren festgefroren wie ihr Atem dort, wo das Tuch ihren Mund bedeckte.
    Er hatte eine Mütze getragen, als sie aufgebrochen waren, eine warme Mütze, die seine Ohren bedeckte. Das wusste er noch. Aber er hatte sie schon lange verloren, seine Ohren waren längst so weiß wie der Schnee. Und die Frau riss ein Stück von ihrem Tuch ab, wickelte es ihm um den Kopf, bedeckte auch seinen Mund und die Nase damit. Bübchen hatte sie ihn genannt, aber wie sie es aussprach, klang es Bibchen.
    Gott, ihm war so kalt. Er konnte nicht laufen und nicht atmen in der Kälte. Der Schnee stach wie mit tausend Nadeln in jedes ungeschützte Fleckchen Haut. Und Kurt sang immer noch ohne die Lippen zu bewegen, jetzt mit einer hellen Kinderstimme. «Im Schnee saß, im Schnee saß, im Schnee, da saß ein armer Mann, hat Kleider nicht, hat Lumpen an.»
    Im Fackelzug zog sie an ihm vorbei, dicht hinter dem Sankt Martin auf dem Pferd, sechs oder sieben Jahre alt. Sie strahlte ihn an im Vorbeigehen und sang aus voller Kehle.
    «Oh, helft mir doch in meiner Not, sonst ist der bittre Frost mein Tod.»
Auf seiner Zunge schmeckte es noch bitter von den Tabletten, die Kurt ihm in den Mund gezwungen hatte. Als er das nächste Mal blinzelte, war kein Licht mehr da.
Kurt war auch weg. Er drehte den Kopf ein bisschen zur Seite. Die Zeiger des Weckers leuchteten fahl, die Stundenstriche waren als schwache Pünktchen auszumachen. Drei Uhr vorbei. Noch ein paar Minuten liegen bleiben, dachte er, nur um den Kopf klar zu bekommen. Er fühlte sich so benommen. Dann ein starker Kaffee, dachte er, zwei, drei Tassen. Und dann zur Gießerei fahren. Aber als er nach ein paar Minuten wieder auf die Uhr schaute, war es hell im Zimmer und kurz vor sieben.
Es traf ihn wie ein elektrischer Schlag. Er war sofort wach, spürte das Pochen im Arm, den ekligen Geschmack im Mund und den Druck im Schädel. Er schwang die Beine aus dem Bett, richtete sich auf und blieb einen Moment auf der Kante sitzen, weil das Zimmer Anstalten machte, sich zu drehen. Es war so weit bis zur Gießerei. Aber es gab ein Telefon in seiner Nähe, das er in einem Notfall benutzen konnte. Die Hausmeisterin ließ ihn garantiert an ihren Apparat.
Vielleicht war es das Gefühl von Schwäche in sämtlichen Gliedern, das ihn an das Telefon der Hausmeisterin denken ließ und daran, Kurt anzurufen, damit er einen Rettungswagen zur Gießerei schickte. Im Geist hörte er sich bereits sagen: «Der Mann hat wahrscheinlich viel Blut verloren. Aber er kann euch zu diesem Weib führen. Er ist der Einzige, der das kann.»
Und dann? Keine Beweise, keine Möglichkeit, ihre Mörderin und ihren Mann zu überführen. Es tat ihm Leid um Ohloff, ehrlich und aufrichtig Leid. Aber es ging nicht anders.
Er brühte eine große Kanne Kaffee auf, starken Kaffee, so stark, dass er auf der Zunge klebte. Zwei Tassen davon trank er, füllte den Rest in die Thermoskanne, die er sonst mit zum Dienst nahm. Dann bestrich er mehrere Brotscheiben dick mit Margarine und belegte sie gleich doppelt mit Wurst. Alles zusammen stopfte er in eine der Packtaschen, steckte auch das Tablettenröhrchen ein, das immer noch auf dem Tisch lag, und verließ das Zimmer.
Er war ein bisschen wacklig auf den Beinen, war halt nicht mehr der Jüngste. Seine Hände zitterten, als er die Packtaschen über den Gepäckträger des Rades hängte und festzurrte. Dann schwang er sich in den Sattel und trat zügig in die Pedale.
Kurz nach acht kam er bei der Gießerei an, stieg vom Rad, schob es in die dämmrige Fabrikhalle, rief dabei bereits nach Ohloff. Antwort bekam er nicht, und seine Augen brauchten einen Moment, ehe sie sich auf das schwache Licht eingestellt hatten. Der Kadett stand unverändert. Nur saß Ohloff nicht mehr hinter dem Steuer. Er hing vornüber, und für ein paar fürchterliche Sekunden dachte Merkel, er sei tot.
Doch als er ihn an der Schulter berührte, zuckte Ohloff zusammen und stöhnte. Merkel atmete einmal tief durch, zog den Verbandskasten unter dem Auto heraus und setzte sich damit neben Ohloff. Die Packtasche mit dem kräftigen Frühstück hing noch am Rad, da hing sie auch erstmal gut. Es sah nicht so aus, als ob Ohloff jetzt besonderen Wert

Weitere Kostenlose Bücher