Merkels Tochter. Sonderausgabe.
drehte er nachts das Gas auf, sie roch es gerade noch rechtzeitig.
Dann hatte sie einen Unfall, rutschte beim Fensterputzen ab, fiel zwei Stockwerke tief und konnte von Glück sprechen, dass sie überlebte und nicht im Rollstuhl auskam. Monatelang lag sie im Krankenhaus. Er musste wieder ins Heim, weil sonst niemand da war, der ihm was gekocht und seine Hosen gewaschen hätte.
Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, war es fast unmöglich, noch mit ihm umzugehen. Er war vierzehn, schon etwas größer als sie. Und in den Monaten im Heim hatten sie ihm beigebracht, wie man sich durchsetzte, mit roher Gewalt. Er schlug sie, wenn sie ihm ins Gewissen zu reden versuchte, weil er ihr wieder mal Geld aus dem Schrank geklaut hatte. Brüllte bei jeder Gelegenheit, er müsse sich von einem Weib, das ihn nicht wolle, auch nichts sagen lassen.
Als vor drei Jahren die Sache in der Straßenbahn passierte, zeigte sie ihn selbst an, weil er abgehauen war und anschließend auch noch sie verprügelt hatte. Sie hoffte, er käme nun wegen schwerer Körperverletzung in ein Heim, wo man ihn nicht so schnell wieder rausließ, oder sogar ins Gefängnis.
Aber das Jugendgericht beschaffte ihm eine Pflichtverteidigerin mit Haaren auf den Zähnen, Frau Doktor Greta Baresi. Die holte eine Bewährungsstrafe raus und brachte es fertig, die Sache so hinzustellen, als wäre er ein Opfer der Umstände. Wochenlang hatte Annemarie Ziriak diesem Weib die Pest an den Hals gewünscht. Allerdings beließ die Anwältin es nicht dabei, vor Gericht für Helmut einzutreten. Sie setzte sie sich auch mit Irene in Verbindung, kannte Friedel Gersolek und wusste, dass seine Tochter eine sehr engagierte Sozialarbeiterin war. Und Irene übernahm den Rest, sprich die anschließende Betreuung, wenn auch nicht offiziell.
Brandes hieß sie zu dem Zeitpunkt noch nicht, auch nicht Merkel. Aber sie erklärte ziemlich bald, Gersolek sei der Name ihres Stiefvaters, den sie bei der Hochzeit ihrer Mutter habe annehmen müssen. Sie sei damals gar nicht gefragt worden und fühle sich heute wie eine Verräterin. Sie erzählte sogar, dass ihr Vater einen Mann erschossen habe. Doch das ändere nichts an der Tatsache, dass er ihr Vater sei.
Auch für Annemarie Ziriak hatte Irene alles erklären können und es damit irgendwie leichter gemacht, zu verstehen und zu ertragen. Bis dahin hatte sie mit einigen Leuten in diversen Ämtern zu tun gehabt. Manche waren griesgrämig oder stur, andere ganz nett, halfen auch mal, den einen oder anderen Antrag zu stellen, für einen Bekleidungszuschuss oder das Wohngeld.
Um Anträge kümmerte Irene sich nicht, sie setzte voraus, dass Annemarie Ziriak das alleine konnte. Was das eigentliche Problem betraf, sagte Irene, Helmut sei mit seinen siebzehn Jahren noch nicht zu alt, man könne durchaus noch etwas machen. Nur eines dürfe man nicht tun, ihn wieder ins Heim oder gar hinter Gitter bringen. Dann könne man ihn auch gleich abschreiben.
Irene kam zweimal in die Wohnung, um mit ihm zu sprechen. Er war nicht da, weil sie sich angemeldet hatte, zu Anfang wollte er gar nichts mit ihr zu tun haben. So sprach sie erst mal mit Annemarie Ziriak über Versäumnisse, Schuldgefühle und Versagen. Sie behauptete, in Wahrheit sei Helmut gar nicht so, kein Mensch käme als wilder Mann oder Verbrecher auf die Welt. Man müsse ihm nur zeigen, dass es auch für ihn einen Platz gab, an dem er gebraucht wurde.
Obwohl Irene auch sie in die Pflicht nahm, war es für Annemarie Ziriak schon beim zweiten Mal wie Besuch von einer guten Bekannten, der man sein Herz ausschütten und bedingungslos vertrauen konnte, weil sie selbst wusste, wie das war. Dass man sich weder den Sohn noch den Vater aussuchen konnte. Aber da sie nun einmal da waren, musste man sie auch lieben, den einen wie den anderen, auch wenn man panische Angst vor ihnen hatte. Weil sie das brauchten, gar nicht existieren konnten, wenn sie nicht genug geliebt wurden. Weil sie dann böse wurden, um sich schossen oder schlugen.
Beim dritten Besuch wartete Irene so lange, bis er nach Hause kam, um halb zwei in der Nacht. Er wurde gleich pampig, verlangte, sie solle sich verziehen, er brauche keine Sozialtante. Irene sagte: «Reiß die Klappe nicht so weit auf, Junge. Ich bin deine Zukunft, und ich nehme doch an, du willst eine. Mit mir hast du eine solide Chance, musst allerdings ein bisschen mitarbeiten. Vielleicht sagst du mir erst mal, was dir so vorschwebt. Willst du weiter Leute verprügeln?
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