Merkels Tochter. Sonderausgabe.
wieder.
Gut ein Dutzend Mal sagte er sich, dass er keine Zeit mehr hatte, sich mit den Briefen eines Kindes zu beschäftigen, weil er doch zum Dienst musste. Und den Hund vorher noch abholen. Den Leo, der immer so treuherzig und vertrauensvoll zu ihm aufschaute, wenn sie ihre Runden drehten. Damals, als sie ein halbes Jahr alt und so hungrig war, als er ihr nur den Schnuller bieten konnte und ein bisschen dummes Geschwätz, da hatte sie ihn genauso angeschaut.
Er ging vom Fenster zum Tisch und vom Tisch zum Fenster. Er hatte das Bedürfnis, das Fenster aufzureißen, sich weit hinauszulehnen und über die Straße zu brüllen: «Er heißt Helmut Ziriak.» Nur um es hinter sich zu bringen.
Aber zuerst einen der Briefe lesen, nur einen, so viel Zeit musste sein. Mal sehen, was sie ihm damals zu sagen gehabt hatte. Alltagskram wahrscheinlich. Was halt so in einem Kind vorging, dem es an nichts fehlte, das sich nur langweilte und nichts Besseres zu tun hatte, als Briefe an einen Mann zu schreiben, der gar nicht wollte, dass man ihm Briefe schrieb. Und jeder begann mit: «Lieber Papa».
Der erste erschütterte ihn in den Grundfesten, es musste der erste sein, den sie geschrieben hatte. Es war eine elende Quälerei, ihn zu lesen. Er hatte wieder das Gefühl, irgendwo einzutauchen. So ähnlich wie auf der Treppe, als er hinaufging und noch nicht genau wusste, was ihn oben erwartete außer dem schreienden Baby. Es war wie ein Strudel, der ihn heftig herumwirbelte.
«Lieber Papa, ich bin so froh, dass du noch lebst. Die ganze Nacht habe ich nicht geschlafen und mich so geschämt, weil ich es einfach geglaubt habe, obwohl ich nie auf einem Friedhof war. Ich habe mich nie getraut zu fragen, wo dein Grab ist. Und nun bist du noch da und sicher sehr traurig, weil du glaubst, ich hätte dich vergessen. Aber das habe ich nicht, ganz bestimmt nicht. Ich habe immer an dich gedacht und viel Geld für dich gespart. Wenn du etwas brauchst, musst du es nur Onkel Kurt sagen. Ich darf dich ja leider erst besuchen, wenn ich groß bin.»
Er nahm einen weiteren Umschlag, irgendeinen, und sah ihr Gesicht bei der Haustür, ihr Lächeln. Wenn sie lächelte, war sie hübsch gewesen. Und er wusste nicht, wie sie mit dreizehn oder vierzehn ausgesehen hatte, als sie schrieb:
«Lieber Papa, heute habe ich mich lange mit Herrn Tommes über dich unterhalten. Er ist ein lieber Mensch, mit dem man über alles reden kann. Und er sagte, für einen Mann im Gefängnis sei es ungeheuer wichtig, zu wissen, dass ihn jemand lieb hat und auf ihn wartet. Das weißt du ja nun schon lange, aber ich möchte es dir trotzdem noch einmal sagen. Jeden Abend rechne ich aus, wie viele Tage noch übrig sind. Onkel Kurt sagte, nach fünfzehn Jahren kann man einen Antrag auf Begnadigung stellen. Dabei will er dir helfen. Darauf freue ich mich schon sehr. Und dann werde ich draußen vor dem Tor auf dich warten, deine Irene.»
Wer, zum Teufel, war Herr Tommes? Er wusste so gut wie gar nichts von ihr und schaffte nur drei von den Briefen. Dann machten die Augen nicht mehr mit. Sie waren so trocken, als hätte man ihm Sand hineingerieben. Er musste ja auch zum Dienst. Das Häufchen Papier nahm er mit, tastete bestimmt hundertmal an die Jackentasche, in der es steckte, während er mit dem Hund seine Runden drehte.
Ein komisches Kind! Schrieb Brief um Brief an einen Mann, von dem es nichts sah und nichts hörte. Dass Agnes sich regelmäßig hingesetzt hatte, um ebenfalls Briefe zu schreiben, die alle mit «Liebe Irene», begannen, wusste er nicht. Aber eins wusste er noch genau, hatte es all die Jahre vergessen gehabt, und jetzt auf einmal fiel es ihm wieder ein. Sie hatte ihm schon mal einen Brief geschrieben. Da war sie sieben oder acht gewesen.
An einem Sonntagmorgen war sie damit zu ihm ins Schlafzimmer gekommen. Seine Frau war schon in der Küche und machte Frühstück. Er lag noch im Bett, döste vor sich hin, sie kroch zu ihm unter die Decke, drückte ihm ein mehrfach gefaltetes Blatt in die Finger, das sie aus einem ihrer Schulhefte gerissen hatte. Sie schmiegte sich an ihn und sagte: «Ich hab dir was aufgeschrieben, Papa. Wir haben ja nicht viel Zeit, uns etwas zu erzählen, weil du immer so viel arbeiten musst. Aber wenn du in deinem Büro mal ein bisschen Zeit hast, dann kannst du das lesen.»
Er konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, was er damals mit dem Blatt Papier gemacht, ob er es unters Kopfkissen geschoben oder auf den Nachtisch
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