Merkels Tochter. Sonderausgabe.
gelegt hatte, um es später in irgendeine Hosentasche zu stecken, wo er es dann vergessen hatte. Aber er wusste noch genau, wie es gewesen war, den kleinen, warmen Körper zu fühlen, wie sie sich an ihn gekuschelt hatte. Das Stimmchen klang ihm noch im Ohr.
Als Kurts Stimme plötzlich dazwischenquatschte: «Das bist du ihr schuldig», ging Merkel wie in Trance zu der Telefonzelle gleich beim Eingang des Einkaufszentrums. Der Strudel wirbelte ihn immer noch heftig herum, verursachte einen ungeheuren Druck auf den Ohren und ein Rauschen im Hirn.
Dass er Kurts Privatnummer wählte, registrierte er gar nicht richtig, war fast ein wenig überrascht, als er dessen Stimme hörte, zuerst verschlafen, dann den gespannten und erwartungsvollen Unterton. «Ist dir etwas eingefallen, Hein?»
«Er heißt Ziriak», sagte Merkel und fühlte, wie er langsam aus dem Strudel auftauchte. «Helmut Ziriak. Darauf wärt ihr auch noch von selbst gekommen. Er muss einer von ihren Kunden gewesen sein, oder nennt man das bei den Ämtern anders? Um seine Adresse müsst ihr euch selbst kümmern. Die kenn ich nicht.»
Er fühlte sich danach in keiner Weise leichter, nur völlig leer im Innern, wie tot. Bis dahin hatte er noch denken können, dass er den Namen verschwieg, weil er selbst etwas unternehmen wollte, um ihren Tod zu rächen. Weil er einer war, der den starken Mann nicht nur spielte. Das hatte er doch nicht nötig, hatte es niemals nötig gehabt.
Und es klang doch gut: Hein Merkel, der einsame Rächer. Aber so war es nicht. So weit war er noch lange nicht. Einsam, das ja, es war ihm so richtig bewusst geworden, als er wieder und wieder die Anrede in ihren Briefen las. Lieber Papa! Und plötzlich den kleinen, warmen Körper neben sich fühlte. Da war es so , als hätte er die paar Schritte von der Tür bis zu ihrem Bett gehen müssen. Unbedingt! Sie noch einmal anschauen aus der Nähe und nicht aus drei Metern Entfernung.
Und wenn er zuerst auf sie eingedroschen hätte, es wäre doch nur Verzweiflung gewesen oder Trauer, dieser wahnsinnige Schmerz, ihr nicht mehr sagen zu können, dass er sie nicht bloß brauchte für ein Frühstück pro Woche, die dreckige Wäsche und ein Paar Socken ab und zu. Und es wäre bestimmt der Moment gekommen, wo er sie an sich gerissen und in die Arme genommen hätte, wenigstens dieses eine Mal.
21. Kapitel
Seit dem Mittwochabend hatte Annemarie Ziriak Angst, eine scheußliche Angst, dass ihr Sohn etwas angerichtet hatte, was sich nicht wieder in Ordnung bringen ließ. Leicht war es nie gewesen mit Helmut. Noch vor seiner Geburt hatte sein Vater sie sitzen lassen. Verheiratet waren sie nicht, so hatte er einfach verschwinden können von einem Tag auf den anderen. Und Helmut war schon als kleines Kind so wild. Wenn sie ihn allein ließ, begann er zu toben. Ständig verlangte er, dass sie sich mit ihm beschäftigte. Aber sie hatte nicht die Zeit, musste doch arbeiten, um ihn und sich zu ernähren.
Zu Anfang lebten sie bei ihrer Mutter, die gar nicht mit ihm fertig wurde. Gleich nachdem er drei geworden war, ging er in einen Kindergarten. Nur gab es dort ständig Raufereien. Er schlug und trat und biss. Zweimal die Woche wurde sie hinbestellt, musste sich anhören, dass es so nicht weitergehen könne. Da gab sie ihn zum ersten Mal in ein Heim, es ging nicht anders.
Sie besuchte ihn, wirklich jedes Wochenende. Und jedes Mal warf er sich auf den Boden, sobald er sie zu Gesicht bekam. Er schrie und tobte, trommelte mit den Fersen, schlug mit den Armen um sich und brüllte, sie solle ihn wieder mitnehmen, er sei auch ganz lieb.
Als er schulpflichtig wurde, suchte sie eine eigene Wohnung und nahm ihn wieder zu sich. Aber es ging nicht lange gut. Zweimal musste sie ihn abends, als sie von der Arbeit kam, auf einer Polizeiwache abholen, weil man ihn irgendwo aufgegriffen hatte. Einmal war er beim Stehlen in einem Kaufhaus erwischt worden und einmal, als er parkende Autos zerkratzte. Dann kam einer vom Jugendamt, erzählte etwas von grober Vernachlässigung und sagte, wenn sie mit seiner Erziehung überfordert sei, müsse er eben wieder ins Heim, zumindest so lange, bis er alt genug wäre und nachmittags keine Aufsicht mehr brauche.
Mit zwölf holte sie ihn zurück. Da war er schon sehr verstockt, tat im Grunde, was er wollte, aber er war vernünftig genug, es nur in der Wohnung zu tun, sodass sie es unter sich ausmachen konnten. Mal versengte er ihr eine Bluse, mal pinkelte er in ihr Bett, und einmal
Weitere Kostenlose Bücher