Merlin und der Zauberspiegel
fragte ich schwer atmend, während ich den Fuß wieder in den Stiefel zwängte. »Bist du schon einmal
hier gewesen?«
Er nickte. »So bin ich hergekommen. Aber eigentlich bin nicht ich es, der uns führt. Der Spiegel ist es.«
Immer noch keuchend schaute ich ihn verblüfft an.
»Irgendwie weiß er, wer schon durchgekommen ist. Er hilft einem den Rückweg zu finden – genau wie mein Meister uns den Rest
des Weges führen wird, wenn wir wieder durchgegangen sind.«
Meine Verwirrung nahm zu. »Durchgegangen?«
Er sagte nichts mehr und ging weiter. Überhaupt fiel während des folgenden Marschs kein Wort zwischen uns, höchstens dann
und wann ein Fluch über die Zweige, die nach unserer Kleidung griffen, oder die schwefligen Wolken, die unsere Lungen versengten.
In diesem Schweigenwirkte das Heulen des Sumpfes noch lauter als zuvor. Doch ich hatte kaum mehr die Energie, mich deshalb zu sorgen. Mein Körper
wurde immer schwächer, meine Beine gaben nach. Alles, was ich trug – mein Stock, die Stiefel, selbst mein Schwert –, fühlte sich mit jedem Schritt schwerer an.
Es war ein schrecklicher Fehler gewesen, den Schlüssel zu gebrauchen! Ich hatte nicht nur Ectors Auftrag vereitelt, ich hatte
mich wahrscheinlich selbst zum Tode verurteilt. Und wozu? Nimue streifte immer noch durch den Sumpf. Vielleicht war sie nicht
mehr so mächtig ohne die Moorghule und die Kräfte, die sie ihnen überlassen hatte, aber sie schmiedete weiter ihre Ränke und
war so rachsüchtig wie zuvor. Immer noch konnte ich ihre feindselige Gegenwart spüren, sie war so greifbar wie mein Stock.
Ich wurde das Gefühl nicht los, dass sie ihre Pläne für das Moor – und für mich – noch nicht aufgegeben hatte.
Endlich näherten wir uns einer Art roh behauenem Torbogen. Ranken mit purpurroten Blättern wanden sich um die beiden Steinsäulen,
die das Querstück trugen. Ein Gewirr aus tropfnassem dichtem Moos hing von oben herunter.
Ich schleppte mich zu den anderen und stellte mich neben Hallia. Mein Sehvermögen wurde von dem Tor angezogen – und dem beweglichen
Spiegel, den es enthielt. Die seltsam schimmernde Oberfläche gab unsere Gesichter wieder, allerdings sahen sie schattenhaft
und verzerrt, fast unkenntlich aus. Die ganze Zeit bog sich der Spiegel und sprudelte, als wäre er gar kein Spiegel, sondern
ein Nebelvorhang. Tatsächlich waberte dunkler Dunst in seinen Tiefen – doch ganz anders als der Dunst des Moors.
Denn der Nebel im Spiegel bewegte sich nach einem eigenen Muster – fast schien es, nach einem eigenen Willen. Wolken umschlangen
einander, lösten sich auf und ballten sich wieder zu neuen Verbindungen, die sich in neblige Aussichten mit flüchtigen Blicken
auf Täler, Häuser oder halb geformte Hügel öffneten; dann vereinigten sich alle diese Landschaften, flossen ineinander und
bildeten eine einzelne Wolke, die sich erneut verteilte. Der Vorgang wiederholte sich, aber jedes Mal mit neuen Variationen.
»Dieser Spiegel . . .«, fing ich an und schaute auf mein verzerrtes Abbild, »er ist fast lebendig.«
Ector nickte heftig. »Mein Meister würde dir zustimmen. Er sagt, dass der Spiegel eigentlich ein Durchgang ist, ein Tor. Er
führt zu dem, was mein Meister die Zeitnebel nennt, allerdings sagt er, dass sie im Lauf der Jahrhunderte auch andere Namen
hatten.«
Auf meinen Stock gestützt spähte ich mit einer Mischung aus Angst und Faszination in das Tor.
Die Zeitnebel.
Ich kostete den Namen ebenso aus wie den Gedanken. Wie oft hatte Cairpré, wenn er mich die überlieferte Kunde von Fincayra
und anderen Ländern lehrte, innegehalten und über den Begriff der Zeit gegrübelt. Denn er ahnte genau wie ich ihre geheimnisvollen
Kräfte. Er wusste auch, dass ich mich immer danach gesehnt hatte, durch die Zeit zu wandern – als kleiner Junge sogar davon
träumte, rückwärts zu reisen. Jünger zu werden, während die Welt um mich herum älter wurde! Ich wusste, es war ein absonderlicher
Gedanke, und doch hegte ich ihn insgeheim.
Der Spiegel wölbte sich und verzerrte unsere Gesichter.Ein Auge von Hallia schwoll, bis es fast zu platzen schien, dann zersplitterte es plötzlich in ein Dutzend winzige Augen,
die uns alle anstarrten. Zweifelnd fragte ich Ector: »Bist du sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind?«
Er schluckte. »Ganz sicher.« Er schaute auf seine schlammverkrusteten Stiefel und fügte hinzu: »Nur wo oder wie wir auf der
anderen Seite herauskommen,
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