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Merlin und die Feuerproben

Merlin und die Feuerproben

Titel: Merlin und die Feuerproben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas A. Barron
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aus Mitgefühl oder Bestürzung, konnte ich nicht sagen. Doch ich wusste genau wie
     er, dass mein Teil der Geschichte zu Ende war. Geschickt zeichnete er mit dem Stein etwas in das obere Drittel des Kreises,
     ein Symbol, merkte ich, für meinen Beitrag zur Gesamtgeschichte. Aber statt Kopf oder Körper eines Wolfs, die ich skizziert
     hätte, zeichnete er eine Pfotenspur. Die Wolfsfährte.
    Eremon sah weder mich noch Hallia, sondern den Kreis an, als er zu reden begann. »Hevydd erkannte nicht, dass der Wald kein
     Käfig mit Gitterstäben war – sondern ein endloses Labyrinth sich überschneidender Fährten. Wo eine Fährte endete, begann eine
     andere. Hirsche sprangen hier; Dachse rannten dort. Eine Spinne fiel von einem Ast; ein Eichhörnchen kletterte auf einen anderen.
     Über den Boden glitt eine neugeborene Schlange; am Himmel flog ein Adlerpaar. Jede dieser Fährten war mit einer anderen verbunden,
     und wenn der Wolf allein über den Hügel lief, zog er in Wirklichkeit neben allen anderen her. Selbst wenn er von seinem Pfad
     abwich, um sich an seine nächste Mahlzeit heranzupirschen, wurden die Fährten von Jäger und Gejagten zu einer einzigen.«
    Er sprach jetzt so leise, dass ich ihn über dem plätschernden Bach kaum verstehen konnte. »Deswegen bemerkte es Hevydd nicht,
     als die letzte Eiche zugrunde ging und die Eichhörnchen deshalb wegzogen. Er trauerte auch nicht, als die Seuche das Kaninchengehege
     befiel und jedes einzelne Tier tötete. Und er merkte sich nicht den Tag, an dem die gelb geflügelten Schmetterlinge nicht
     mehr durch die Gehölze flogen, so wenig wie die Eichelhäher und Raben, die sich von ihnen ernährten.«
    Er verstummte und zeichnete ein Dutzend verschiedener Fährten in seinen Teil des Kreises – die Spuren aller Tiere, die er
     genannt hatte, und mehr. Als er fertig war, trat Hallia näher, ihre runden Augen wichen noch immer meinem Blick aus. Einen
     Moment betrachtete sie nachdenklich die Zeichnung im Schlamm und spielte dabei mit ihrem kastanienbraunen Zopf.
    »Der Wald«, begann sie, »wurde stiller   … von Tag zu Tag. So schrecklich still. Nur noch wenige Vögel zwitscherten in den Zweigen; nur wenige Tiere zogen durchs Unterholz.
     Aber Hevydds Geheul stieg immer öfter von dem Hügel auf. Er heulte aus größerem Hunger, weil Nahrung knapper war. Und er heulte
     auch aus größerer Einsamkeit.«
    Anmutig bückte sie sich und nahm Eremon den schmalen Stein aus der Hand. Sie setzte zum Weiterreden an, verstummte dann und
     wartete eine Weile, bevor sich die Worte schließlich einstellten. »Es kam der Tag   … an dem ein neues Geschöpf den Wald betrat.« Mit tiefen, kräftigen Strichen füllte sie den letzten Teil des Kreises mit einer
     anderen Spur: dem gestiefelten Fuß eines Menschen. »DiesesGeschöpf kam   … mit Pfeilen und Klingen. Heimlich, verschlagen näherte es sich Hevydds Klagestein. Keine Vögel waren mehr da, die warnend
     zum Himmel gestiegen wären. Keine Tiere flohen vor dem Schritt des Geschöpfs. Und niemand war mehr da, um zu trauern, als
     der Mensch Hevydd tötete   … und ihm das Herz aus dem Leib schnitt.«

XIII
LAUFEN WIE EIN HIRSCH
    A ls Hallia ihren Teil der Geschichte beendet hatte, schaute sie ernst auf den plätschernden Bach hinunter. Obwohl mich die
     Brutalität ihrer Worte getroffen hatte, war ich noch mehr von dem Schmerz in ihrer Stimme berührt.
    Eremon stand langsam auf und trat ihr gegenüber.
    »Wäre es richtig zu sagen, meine Schwester, dass Hevydd noch leben könnte, wenn er mehr verstanden hätte?«
    »Vielleicht.« Sie wartete länger als üblich, bevor sie weitersprach. »Aber es wäre auch richtig, zu fragen: Lag der Fehler
     bei ihm oder dem Menschen, der ihn tötete?«
    »Beides«, erklärte ich und stand ebenfalls auf. »So ist es meistens. Mit Fehlern, meine ich. Schon oft habe ich erlebt, wie
     meine eigenen Fehler sich mit denen anderer verbinden und so alles noch schlimmer wird.«
    Während Hallia bis ans Bachufer zurückwich, blieb Eremon ruhig stehen und beobachtete mich spöttisch. »Und woher, junger Falke,
     weißt du so viel über Fehler?«
    Ich antwortete ohne Zögern: »Ich habe eine Schwester.« Sein ganzes Gesicht verzog sich zu einem Lächeln – das sofort verschwand,
     als Hallia ihm einen scharfen Blick schickte. »Jetzt erzähl uns doch: Was führte dich hierher? Und warum spüre ich so viel
     vom einsamen Wolf in dir?«
    Ich hatte plötzlich das Bedürfnis, mich auf meinen Stock zu

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