Merlin und die Feuerproben
großes glänzendes Rad, es bedeckte fast die ganze Wand. Langsam, sehr langsam drehte es
sich und sein ständiges Knarren mischte sich in den Chor der Stimmen, die jetzt in unsere Ohren schrien. Die Stimmen waren
immer noch unverständlich, doch sie kamen deutlich aus nächster Nähe. Woher, konnte ich nicht feststellen. Wie wenn Frösche
nachts an einem verborgenen Teich quaken, schwebten die Stimmen um uns herum, schwollen an und erstarben ohne je ihre Herkunft
zu enthüllen.
Überrascht standen wir da und betrachteten das Rad, das sich endlos um seine Achse drehte. Es schien aus irgendeinem Holz
gemacht, obwohl es dunkler war als jedes Holz, das ich je gesehen hatte. Jede der fünf breiten Speichen und der Rand zeigten
zahllose Facetten, als hätte die gleiche Hand sie geformt wie die Kristalle rundum.
Fünf Speichen in einem Kreis … genau wie der fünfzackige Stern im Kreis, der in meinen Stock geschnitzt war. Mein verlorener Stock! Wie deutlich erinnerte
ich mich an jene Nacht vor langer Zeit, als Gwri mit den goldenen Haaren aus dem sternenbedeckten Himmel herabgestiegen war,
um mich auf einem windgepeitschten Bergrücken zu treffen. Das Symbol, hatte sie gesagt, würde mich daran erinnern, dass alle
Dinge irgendwie miteinander verbunden sind. Dass alle Worte, alle Lieder Teil dessen sind, was sie
das große und herrliche Lied der Sterne
nannte.
Ich schüttelte den Kopf. Dieses Gebilde erinnerte mich jetzt an alles, was ich verloren hatte. Meinen Stock. Meine Kräfte.
Mein Wesentliches.
In diesem Moment bemerkte ich drei oder vier dunkle Flecken auf dem Boden des Raums. An diesen Stellen funkelten keine Kristalle,
strahlte kein Licht. Neugierig ging ich näher. Plötzlich war mir, als gefriere mir das Blut in den Adern. Knochen! Durch mächtige
Gewalt zersplittert und verkohlt. Aus ihrer Größe und Form schloss ich, dass es die Reste eines Mannes oder einer Frau waren
– jemand, der zweifellos die falsche Orakelstimme gewählt hatte.
Als ich mich nach einem Schädelstück bückte, fasste mich Hallia am Arm. »Die Speichen!«, rief sie über die widerhallenden
Stimmen. »Sie verändern sich.«
Ich hielt den Atem an und ließ den Schädel fallen. Die Facetten in der Mitte jeder der fünf Speichen veränderten sich tatsächlich.
Langsam dehnten sie sich, wurden länger und breiter und zogen sich zu seltsamen Formen zusammen. Einige wölbten sich zu knolligen
Klumpen, andere bogen sich nach innen und bildeten Schlitze oder Grübchen.Die mittleren Teile der Speichen blähten sich, während sich die anderen Formen vereinigten und zu größeren Gebilden entwickelten.
Gebilde mit Mustern. Gebilde mit …
Gesichtern. Hallia und ich sahen einander an. Denn mitten in jeder Speiche war ein Gesicht erschienen, so verzerrt wie knorriges
Holz. Während das Rad sich weiterdrehte, wurden die Gesichter deutlicher. Eins nach dem anderen öffnete die trüben gelben
Augen, dehnte die Lippen und wandte den Blick uns zu. Als sich die Münder zum ersten Mal öffneten, kam aus jedem eine der
körperlosen Stimmen im Raum. Zugleich redeten die Stimmen in der Sprache Fincayras.
»Befreie mich!«, kam es stöhnend aus einem breiten, eckigen Gesicht, das gerade im Rad hinaufgestiegen war. »Befreie mich
und die Wahrheit wird dein sein.« Während das Rad sich langsam drehte, verzerrte sich das Gesicht und wurde noch breiter als
zuvor. Es stieß einen tiefen, langen Seufzer aus. »Befreie mich! Hast du überhaupt kein Erbarmen? Befreiiie miiich.«
»Achte nicht auf diese – so eine Schande, so eine Schande – Stimme«, schnauzte ein zweites zuckendes Gesicht an einer tieferen Speiche. »Sie führt dich – wie schade, wie schade – in
die Irre. Die richtige Stimme – so eine Schande – ist nicht seine, sondern meine!«
»Befreie mich, bitte. Befreie mich!«
»Oh, sei doch – welch ein Verbrechen – still.«
Die spitze Nase eines dritten Gesichts stach nach uns. Aus dem zusammengekniffenen Mund kam ein wütendes Zischen. »Hör nicht
auf diessse Ssstimmen! Hör auf mich, damit du überlebssst.«
Hallia wollte mir etwas zuflüstern, da wurde sie von einer vierten Stimme unterbrochen. »Wehe dir, der leben will; wehe mir,
der geben will.« Aus einem schiefen Gesicht mit tief liegenden Augen heulte die Stimme: »Wähle das Richtige und das bin ich.
Wähle das Falsche, und Tod für dich.«
»Ssso ein Unsssinn!«
»Befreie mich, ich bitte dich …«
»Hört
Weitere Kostenlose Bücher