Merlin und die Feuerproben
der Lava getötet worden
war, würde ich nie erfahren. Die Vorstellung, dass sie jetzt endlich wieder mit ihrem Bruder vereint war, tröstete mich nicht.
Vor uns verblassten die letzten Strahlen der Dämmerung und ließen noch ein paar trübe Szenen erkennen – einen verkrüppelten
Baum hier, ein paar schiefe Felsen dort. Hinter uns stiegen schwere Aschewolken, noch dunkler als die Nacht, zum Himmel empor.
Die grollenden Klippen verschwanden bald hinter den kleinen Hügeln, die zurückblieben, als das Tal sich weitete. Bald ritten
wir über dichtes, struppiges Gras statt über die mageren Büschel zwischen den Steinen. Das Tal öffnete sich und ging in welliges
Weideland über, die Ostregion der verdorrten Ebenen.
Ich hatte die Arme um Ionns breiten Hals geschlungen und umklammerte mit den Beinen seine Brust. So galoppierten wir über
die Ebene. Die Nacht um uns wurde schwärzer. Bis auf das gelegentliche Heulen eines Wolfs in der Ferne waren die einzigen
Geräusche das unaufhörliche Stampfen von Ionns Hufen und das anhaltende Rauschen seines Atems. Ein- oder zweimal nickte ich
fast ein, doch jedes Mal fuhr ich wieder auf, bevor ich vom Rücken des Hengstes fiel.
Als das erste Licht des Morgengrauens das Gras streifte, wieherte Ionn und bog nach Norden ab. Minuten später sah ich vor
uns die schimmernde Oberfläche eines Flusses mit mehreren Armen. Ionn wurde langsamer, er trabte und ging schließlich im Schritt
zum Ufer. Steif stieg ich ab. Auf unsicheren Beinen wankte ich zum Fluss und steckte den ganzen Kopf hinein. Selbst als das
eisige Wasser mir über die Ohren lief, hörte ich immer noch das Stampfen der Hufe.
Wir tranken in tiefen Zügen. Schließlich hoben wir zur gleichen Zeit den Kopf. Während ich Hals und Rücken streckte, tollte
Ionn ein wenig herum, als wollte er sich dieMüdigkeit von den Knochen schütteln. Ich winkte ihn zu ein paar hohen Grasbüscheln, doch er kam nur zögernd. Offenbar wusste
er genau wie ich, dass unsere Zeit schnell schwand. Erst als er sah, dass ich ein paar runzlige Beeren von den Büschen am
Ufer zupfte, fing er an zu fressen. Bald stupste er mich an der Schulter zum Zeichen, dass ich wieder aufsteigen sollte.
Wir ritten weiter. Die Ebene hob und senkte sich in sanften Wellen, die von den Gelb- und Brauntönen des Herbstes gefärbt
waren. Wir folgten dem Bogen der Sonne über uns nach Westen. Als sich die Gipfel nebelumwehter Hügel am Horizont zeigten,
war es schon Spätnachmittag. Während sich die Ebene vor uns dehnte, suchte ich immer wieder den Horizont nach den dunstigen
Ufern des unaufhörlichen Flusses ab. Dort, wusste ich, lag die Grenze des Zwergenreichs.
Auch während Ionns Rücken ständig gegen meinen Körper schlug, war ich mir immer der Leere in meiner Brust bewusst. Was würde
ich darum geben, meine alten Kräfte wieder in den Adern zu spüren! Meinen Stock wieder umklammern zu können!
Ob sich Urnalda irgendwie überzeugen ließ, dass sie mir meine verlorenen Kräfte wiedergeben sollte? Ich verzog das Gesicht,
ich wusste die Antwort. Wenn sie mir nicht geglaubt hatte, bevor ich sie demütigte – indem ich unter ihren Augen floh –, würde sie mir jetzt bestimmt nicht glauben. Sicher war ihr Zorn auf mich so groß wie der des Drachen. Außerdem bezweifelte
ich, ob sie meine Kräfte überhaupt wiederherstellen konnte. Auch wenn Cairpré anderer Meinung war, fühlte ich zutiefst, dass
sie völlig zerstört waren, genau wie der Galator.
Das Weideland schien sich endlos zu strecken. Wieder ging ein Tag mit wieder einem Sonnenuntergang zu Ende. Wir ritten tief
in die Nacht, in der kein Mond unseren Weg beleuchtete. Ich spürte, wie Ionn die Muskeln anspannte, um weiterzugaloppieren.
Mein Rücken, meine Schultern schmerzten, mir war schwindlig vor Erschöpfung.
Irgendwann nach Mitternacht mischte sich ein neues Brausen in den Wind. Wir eilten weiter. Plötzlich wieherte der Hengst und
wendete scharf. Panik packte mich und die Angst, Ionn wäre gestolpert. Dann schlug eine kalte Welle an mein rechtes Bein und
bespritzte mir das Gesicht.
Der unaufhörliche Fluss! Ionn watete tiefer hinein und lehnte die mächtige Gestalt in den Strom. Ich drehte mich um und überschaute
mit meinem zweiten Gesicht die zerklüfteten Erdwälle am Ufer hinter uns. Zwar fing ich nur einen Hauch vom Gestank faulenden
Fleisches auf, aber das reichte, um die Erinnerung an die zerstörten Eier wachzurufen – und an den
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