Merlin und die Fluegel der Freiheit
weniger heftig.
Dann roch ich Rauch. Ob er von einer einzelnen Feuerstelle kam oder von vielen Herden, wusste ich nicht. Doch ich ging so
schnell wie möglich weiter am Wasser entlang. Schließlich bemerkte ich schwachen grauen Dunst in der Ferne. Als der Schnee
noch spärlicher fiel, sah ich den Umriss eines Strohdachs. Dann einen zweiten, einen dritten. Es war tatsächlich ein Dorf.
Es bestand aus mehr als einer Handvoll Häuser, die stabiler und schmucker waren als die Hütten von Caer Aranon. Ich sah Ställe
für Schafe, Ziegen und Hühner, aus denen einige Tiere herauskamen und im Schnee herumhüpften. Viele Häuser hatten Veranden
und Blumenkästen, vor einigen standen Schaukelstühle zum Entspannen. Das war zweifellos eine der wohlhabenden Bauerngemeinden
an der Südgrenze des Zwergenreiches. Aber war es Caer Darloch?
Ich kam zum Markt, einem großen Platz zwischen einigen der größten Häuser, in einem war die Schmiede untergebracht. Plötzlich
hörte ich ein Geräusch, das mir Angst einjagte. Ein schreiendes Kind! Ich fuhr herum und suchte den Urheber. Zu meiner Erleichterung
sah ich eine Mutter auf ihrer Veranda, wie sie ihrem Kind die schneedurchnässten Leggings auszog. Das heulende Kind war rot
im Gesicht und tränenüberströmt, aber sonst ganz unversehrt.
In diesem Moment sprach mich jemand mit rauer Stimme an. »Was ist dein Anliegen, Fremder?«
Ich drehte mich um und stand vor einem untersetzten dunkelhaarigen Mann mit rotem Gesicht. In einer Hand hielt er einen Speer
– aber er trug ihn aufrecht wie einen Stab. Erleichtert sah ich, dass die schimmernde Spitze nicht auf mich gerichtet war.
Jedenfalls noch nicht.
»Also?«, schnauzte er und betrachtete mich misstrauisch.
»Ist das Caer Darloch?«, fragte ich.
»Sag mir erst dein Anliegen.«
»Mein Anliegen ist auch deines«, antwortete ich und wischte ein wenig Schnee vom Ärmel meiner Tunika. »Ich muss wissen, ob
du einen Krieger mit Schwertklingen statt Armen gesehen hast.«
Der Mann zog die dunklen Augenbrauen hoch. Sein Gesicht verzerrte sich. Einen Moment sah er aus, als würde ihm übel. Dann
stieß er plötzlich ein schallendes, heiseres Gelächter aus.
»Ein Krieger, sagst du? Ohne Arme? Huuhuuha-ha-ha.« Er schlug sich auf den Schenkel. »Oh, ho-ho-hii, das ist gut!«
Ich schaute ihn finster an und schüttelte mir Schnee vom Kragen der Tunika. »Da gibt’s nichts zu lachen. Er hatSchwerter
anstelle
von Armen. Er ist ein Mörder, einer, der Kinder verkrüppelt.«
Wieder klatschte sich der stämmige Bursche vergnügt aufs Bein. »Der kann nicht viel Scha-ha-den anrichten ohne Arme. Hahaha,
huuhuu.«
»Ich sage die Wahrheit.«
»Dann ist deine Wahrheit, haha, hihii, ziemlich komisch.«
»Überhaupt nicht!« Ich wurde zornig. »Verstehst du denn nicht? Jede Waise – jedes Kind – ist in Gefahr! Hast du kein Herz,
Mann?«
»Doch, doch«, antwortete er glucksend vor Vergnügen. »Und ich habe auch Arme.« Er wurde wieder hysterisch. »Hoho, das ist
einmalig. Arme, Herz, huuhuuhuu.«
Meine Geduld war am Ende. Ich zeigte auf die Speerspitze, die aus schwarzem Obsidian geschnitzt war. »Sicher findest du es
auch komisch, wenn Rhita Gawr euer Dorf angreift und dich mit deinem eigenen Speer aufspießt.«
Plötzlich machte er ein ernstes Gesicht. »Jetzt bist du nicht mehr komisch.« Er senkte den Speer und richtete ihn direkt auf
meine Brust. »Und nicht mehr willkommen.«
»Wer bist du, dass du mich wegschickst? Ich muss mit euren Dorfältesten redeten, mit den Verantwortlichen. Jemand mit einem
Funken Verstand im Kopf.«
Mit angespannten Armmuskeln drückte er den Speer. »Ich bin Lydd, der Wächter von Caer Darloch.« Er stieß mit der Waffe nach
mir und streifte meine Tunika. »Und ich sag dir, du sollst gehen.«
Obwohl ich mit meiner abgetragenen Kleidung und dem schneenassen Haar mehr wie ein Landstreicher als ein Zauberer aussah,
gab ich zurück: »Und ich werde Merlin genannt! Ich befehle dir mich zu deinen Ältesten zu bringen.«
Sein Gesicht wurde rot. »Merlin, wie? Du glaubst, du kannst dich als mächtigen Zauberer ausgeben, nur weil du seinen Namen
gestohlen hast? Von wegen, man erzählt sich, dass der echte Merlin eine Truppe Goblins mit nichts als einer Handbewegung ins
Jenseits befördert!« Er schob die Speerspitze näher, bis sie gegen meine Rippen drückte. »Dabei bist du bloß ein Bettler,
ein frecher Witzbold. Hau ab, sag ich! Oder dein Blut färbt den
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