Merlin und die Fluegel der Freiheit
deutete sie auf den rostbraunen Sack aus selbst gesponnenem Tuch, der offen zwischen den Kirschbaumzweigen
lag. »T’eilean war hier draußen und hat Samen von heruntergefallenen Früchten gesammelt, wie wir es immer tun, um sie im nächsten
Frühjahr zu pflanzen – da ist er plötzlich zusammengebrochen.«
Sie fuhr ihrem Mann mit der Hand durch die weiße Mähne. »Ich konnte ihn nur hier herüberziehen, wo er aufrecht sitzen kann.«
»Meine Brust«, stöhnte T’eilean. »Sie schmerzt . . . schrecklich. Es erdrückt mich. Ich kann kaum –
oooh,
guter Dagda! Kaum atmen.«
Ich legte meine Hand unter seiner flach auf die Rippen, konzentrierte mich und versuchte alle seine Organe nacheinander zu
spüren. Die Leber, dann den Magen; die linke Lunge, dann die rechte; den Darm, das Herz. Ein jäher Schmerz schoss mir durch
die Hand und den Arm hinauf, so dass ich zurückfuhr und zusammenzuckte, während ich ihn anschaute.
»Es ist dein Herz«, sagte ich mit zitternder Stimme. »T’eilean, es fühlt sich, nun, wie ein sehr tief sitzender Schmerz an.
Ich weiß nicht, ob das etwas ist, das ich heilen kann.«
Er schluckte und hatte Mühe, die Worte herauszubringen. »Das ist es nicht. Ich kann . . . es fühlen.«
»Sei nicht so sicher«, tadelte Garlatha. »Wenn du am sichersten bist, irrst du dich am meisten.«
Ihr Mann lächelte schwach. »Hast du nur das gelernt . . . mein Herz? Nach neunundsechzig Jahren Ehe?«
»Siebzig«, verbesserte ihn seine Frau.
»Was es auch gewesen sein mag, ich gebe noch nicht auf. Lass mich versuchen eine Methode zu finden«, erklärte ich, legte wieder
meine Hand auf seine Rippen und begann tiefer einzudringen.
»Du hast noch nie . . . leicht aufgegeben«, sagte T’eilean matt. »Ich weiß noch, wie . . . du zuerst hier durchkamst auf dem
Weg, Stangmar und alle seine Soldaten zugleich anzugreifen. Du bist kaum . . . lange genug geblieben, um . . . eine Larkonfrucht
zu versuchen.«
Ich spürte die Schichten zerrissenen Gewebes in seinem Herzen und kämpfte gegen die Übelkeit, die in mir aufstieg. Trotzdem
gab ich mir alle Mühe, Ruhe zu bewahren, entspannt und zuversichtlich zu klingen. »Ich erinnere mich an diese Frucht. Sie
war wie ein Biss Sonnenschein, purpurroter Sonnenschein. Die beste Frucht, die ich je gegessen habe.«
»Oder die du je essen wirst«, sagte Garlatha trocken. »In der Haut dieser Frucht steckt viel mehr, als du erraten kannst.«
»Wie in diesen Samen dort drüben.« Ich versuchte immer noch mich durch das Gewebe zu arbeiten. »Das Gleiche gilt für sie.«
»Ja«, stimmte sie zu. »Oder wie Kinder. Ich bin immer überrascht, was alles in ihnen steckt.«
Selbst während ich das Herz des Alten tiefer untersuchte, ließen mich ihre Worte schaudern.
T’eilean stöhnte lange und laut. Zugleich stieg die nächste Welle Übelkeit in mir hoch, diesmal so mächtig, dass ich mich
an den knorrigen Stamm lehnen musste, um ihr nicht nachzugeben. Zitternd hob ich die Hand von T’eileans Brust.
»Es ist einfach zu tief.« Ich schaute hinunter auf meinen Schatten und sah, dass er ernst nickte. »Etwas ist darin gebrochen
oder gerissen. Aber ich weiß einfach nicht, wie es zu heilen ist.«
Die Augen des Alten waren kurz auf die Hütte gerichtet. »Genau wie . . . die Harfe«, murmelte er.
»Die blühende Harfe?« Ich wandte mich an Garlatha, die fest die Hand ihres Mannes umklammerte. »Ist sie zerbrochen?«
»Ja«, flüsterte sie ohne den Blick von ihrem Gefährten zu wenden. »Heute Morgen ist sie ohne irgendeine Warnung von ihrem
Haken gefallen, an dem sie so lange sicher gehangen hatte. Das war vielleicht ein Krach und ein Geklapper! Als wir dazukamen,
waren alle Saiten bis auf eine gerissen. Und als T’eilean das Instrument aufhob, brach die letzte Saite. Sie rollte sich bis
zum Resonanzkörper auf und schrie dabei wie ein gequältes, leidendes Baby.«
Eine Träne lief langsam über die Falten von Garlathas runzliger Wange. Zuerst glaubte ich, ihre Trauer gelte der Harfe und
vielleicht ihrem Garten, der den Harfenzauber nicht mehr erlebte. Dann, als ich sah, wie ihre zitternde Hand die von T’eilean
streichelte, wusste ich es besser.
»Es ist nicht so«, sagte er zu ihr, »dass ich nicht . . . sterbenwill.« Sein Gesicht verzerrte sich, als ihn ein neuer Schmerzkrampf packte. »Ich will nur nicht . . . dich . . . allein lassen.«
Die dunklen Augen glänzten, als er hinzufügte: »Wer wird noch da sein, um . . . mit dir
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