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Merlin und die Fluegel der Freiheit

Merlin und die Fluegel der Freiheit

Titel: Merlin und die Fluegel der Freiheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas A. Barron
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Überschwemmungsgebiets gesehen
     hatte.
    Die Größe des Floßes hing natürlich von der Zahl der Kinder ab, die es tragen musste. Wenn Shim trotz der knappen Zeit erfolgreich
     war, fand er vielleicht dreißig, fünfunddreißig. Selbst für ein großes Floß wäre das eine volle Ladung. Doch der Gedanke,
     so viele Leben – so viele Samen – zu retten, stärkte meinen Entschluss, es zu versuchen.
    Eine neue Idee kam mir: Wenn es mir gelang, diese Kinder vor dem Töter zu schützen, wären sie vielleicht auch vor Rhita Gawr
     sicher! Ob das Netz aus Zaubersprüchen, das die Insel verbarg, stark genug war, ihre Küsten und jeden dort vor dem Zugriff
     des Kriegsherrn zu bewahren, selbst wenn er sich in der längsten Nacht des Winters behauptete?
    Der tiefrote Mond stieg in den verdunkelten Himmel und glich einem geschwollenen, wütenden Auge. Hinter der Dünenreihe wurden
     die Wasservögel, die sich am Strand eingefunden hatten, ruhiger. Ich horchte ziemlich lange auf ihre gelegentlichen Rufe und
     die schwappenden Wellen und dachte ständig daran, dass nur noch vier Tage blieben bis zur längsten Nacht. Endlich sank ich
     in einen unruhigen Schlaf.
    Nicht lange nachdem die ersten rosigen Morgenstrahlen den Kamm meiner Düne berührt hatten, wachte ich auf. In der Ferne glaubte
     ich ein rhythmisches Poltern zu hören. Ich packte meinen Stock und lief den sandigen Hang hinauf. Von oben sah ich, dass die
     Versammlung von Seevögelnriesengroß geworden war. Tausende von ihnen liefen umher und schnatterten, sie füllten die ganze Bucht und das seichte Wasser
     bis zur wabernden Nebelwand. Ich sah Pelikane und Möwen, Kormorane und Dreizehenmöwen, langbeinige Kraniche und grauhalsige
     Schwäne, außerdem Enten, Falken, Tölpel und viele andere Arten, deren Namen ich nicht kannte. Einige liefen krächzend oder
     schreiend umher; manche schlugen mit den Flügeln oder tanzten lebhaft; andere standen abseits auf einem Bein und achteten
     nicht auf den Tumult um sie herum.
    Mit dem Morgenlicht verstärkte sich der heisere Lärm der Vögel. Zugleich wurde auch das ferne Poltern lauter, so dass einige
     Vögel am Rande der Menge es bemerkten. Zu dritt oder viert hoben sie ab, kreisten mit weit ausgebreiteten Flügeln durch die
     Nebelschwaden und riefen laut nach ihren Gefährten. Doch erst als der Boden bebte, stiegen die meisten tatsächlich hoch. Dann
     flogen sie zu Hunderten davon, ihre Flügel rauschten im Gleichklang.
    Ich stand, von goldenem Licht umflossen, oben auf der Düne und beobachtete, wie sich die eindrucksvolle Szene entwickelte.
     Immer höher stieg die Masse der Vögel, eine große Spirale fliegender Geschöpfe verdunkelte den Himmel. Rhias Worte, wie im
     Traum beim Sternguckerstein gesprochen, fielen mir ein:
Stell dir vor, du nimmst dir Zeit, über dem Land unten aufzusteigen mit Geist und Körper.
    Als ich jetzt sah, wie diese geflügelten Wesen in den Himmel stiegen, verstand ich Rhias Worte auf ganz neue Art. Hier war
     Freiheit, wahre Freiheit, so rein wie in meinen Träumen vom Fliegen – aber greifbarer, wirklicher. Ich sehnte mich natürlich
     immer noch nach der Geschwindigkeit und Direktheit des Springens, aber physisches Fliegenbot mehr als das: eine Fülle von Gefühl, eine Großartigkeit der Bewegung, ein endloses Aufsteigen der Sinne.
    Die spiralige Vogelwolke wandte sich nach Osten und strömte der aufgehenden Sonne zu. Ich sah, wie sie im Licht verschwand.
     Auch ihre erregten Schreie verklangen, sie wurden zu einem einzigen melancholischen Akkord, der über die Küste hallte.
    Als Nebelstreifen stiegen und die letzten Flieger verhüllten, wurde mir klar, dass ich nicht nur einen riesigen Vogelschwarm
     beobachtete, sondern mein geliebtes Heimatland, das davonglitt.
    Fincayra verschwand wie diese Geschöpfe. Seine farbenfrohen Szenen und vielfältigen Klänge verloren sich wie das eben Gesehene
     und Gehörte.
    Im nächsten Moment waren die Vögel weg. Ich stand über dem Strand, der gerade noch von Leben erfüllt und jetzt völlig leer
     war. Alles war still bis auf das Pulsieren des Meeres – und das ständig wachsende rhythmische Poltern. Ich drehte mich um
     und schaute hinter die abgestorbenen Bäume auf das große Überschwemmungsgebiet.
    Es dauerte nicht lange, da tauchte ein struppiger Kopf am Horizont auf. Mit jedem neuen stampfenden Schritt, der den Boden
     erschütterte, wurde der Kopf größer. Bald sah ich die roten Lichter von Shims Augen über seiner Knollennase, sah

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