Merlin und die Fluegel der Freiheit
den massigen
Hals, die stämmigen Schultern, die mächtige Brust. In den Händen hielt er einen breitrandigen Hut aus verflochtenen Ästen,
während um seine Brust eine Jacke hing, die unendlich viel größer war als meine eigene.
Ich stützte mich auf meinen Stock, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und betrachtete ihn genauer. Ich runzelte die
Stirn, denn ich konnte keine Kinder sehen. Überhauptkeine! Angst stieg in mir hoch. Etwas war gescheitert an dem Plan. Ernsthaft gescheitert.
Ich hielt den Atem an, als ich eine leichte Bewegung im Hut bemerkte. Köpfe – winzige Köpfe! Viele von ihnen, mehr als ich
je erwartet hätte. Er mussten mindestens siebzig oder achtzig sein! Shim hatte seinen Auftrag tatsächlich hervorragend erledigt.
Dann verschwand meine Erleichterung. Es waren zu viele Kinder für ein Floß! Ich schaute hinüber zu den geraden Stämmen der
gebleichten Bäume und zählte sie. Fünfzehn, sechzehn, siebzehn. Vielleicht genug, um ein sehr großes Wasserfahrzeug zu bauen,
das alle Kinder aufnahm. Aber konnte ich es beherrschen?
Durch den Zauberbann steuern?
Ich schaute wieder zu Shim. Während er mit seinen dröhnenden Schritten näher kam, konnte ich die Gesichter einiger seiner
Passagiere erkennen. Es gab welche mit strahlenden Augen, eifrige, zweifelnde und mehrere sehr schläfrige. Ein kleines Mädchen
mit zwei Zöpfen, die seitlich von ihrem Kopf abstanden, saß auf den Schultern eines Jungen mit einem so schmalen Kinn, dass
er mich an Hallia erinnerte. Beide deuteten zum Himmel in die Richtung der scheidenden Vögel, die wahrscheinlich vom höheren
Aussichtspunkt der Kinder aus noch sichtbar waren.
Ich suchte unter den vielen Gesichtern nach Lleu, aber ohne Erfolg. Vielleicht stand er hinter einem anderen, vielleicht schlief
er unten im Hut. Doch ich erkannte einen Jungen, der aus dem Hut auf Shims Daumen kletterte: der Junge, dessen Leben ich im
Ziegengehege von Caer Darloch hatte retten können. Ein Mädchen saß auf dem Hutrand und hielt sich an einem Ast neben ihr fest.
Die Sonne schien auf ihre langen braunen Haare, während sie ehrfürchtigdie Nebelfetzen betrachtete, die von der Küste aufstiegen.
Mit ein paar weiteren donnernden Schritten erreichte Shim die Dünen. Ich konnte kaum das Gleichgewicht halten, als der Sand
so erschüttert wurde. Direkt vor den abgestorbenen Bäumen blieb der Riese stehen und pflanzte die nackten Füße auf den Boden.
Wie immer erstaunte mich seine Größe. Sein Knöchel mit den dichten Haaren reichte fast bis zur halben Höhe der Düne.
»Gut gemacht, Shim!«, rief ich zu ihm hinauf.
Unter der gewaltigen Nase teilten sich die Lippen des Riesen. »Du bitten mich schon oft um verrückte Sachen, Merlin, aber
das sein die verrückteste.«
Er riss den Mund zu einem brüllenden Gähnen auf, dessen Gewalt mehrere Kinder im Hut umwarf. »Ich sein so schläfrig nach dem
Gehen zwei Nächte lang und dem Versuchen, alle Waisenkinder zu finden! Manche in Dörfern, manche in Bergen, manche an Straßen
. . . Es waren nicht einfach! Und manches Mal streiten sie miteinander und ziehen Haare aus und reißen Kleider. Dann, meistens
nachts, wollen sie mich singen und Geschichten erzählen hören. Jetzt . . . brauchen ich wirklich Ruhe. Ich sein schläfrig,
definitiv, absolut.«
Einige Kinder kicherten hysterisch, weil Shims Gähnen sie umgeblasen hatte, mehrere meldeten sich. Ihre Stimmen schallten
so misstönend wie die der abgeflogenen Seevögel über die Dünen.
»Kein Schlafen, Shim! Wir wollen so holprig weitergetragen werden.«
»Sing weiter, Shimmy! Sing uns dein längstes Lied vor, bitte!«
»He! He! Wie bist du denn so dick und fett geworden? Hast du einen ganzen Berg zum Frühstück gegessen?«
»Hör mal, nach diesem Berg musst du das Meer austrinken, um ihn runterzuwaschen. Klar! Dann machst du einen tollen großen
Wasserfall, hii-hii, hii-hii.«
Darauf rief eine tiefere Stimme von hinten im Hut: »Also Kinder, wir brauchen keine . . .«
»Das ist schon in Ordnung, keine Sorge! Der Wasserfall trifft nicht dich.«
Wildes Gelächter folgte. Aber mich interessierte die tiefere Stimme. Meine Mutter! Sie war also auch gekommen.
Mitten in diesem fröhlichen Chaos um sie herum schaute Elen mich mit Augen an, in denen echte Belustigung funkelte. Shim seinerseits
unterdrückte ein weiteres Gähnen und senkte den Hut. Vorsichtig legte er ihn auf die sandige Küste zwischen den Tangzopf,
der den
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