Merlin - Wie alles begann
fühlte ich mich weniger als ein Geschöpf der Erde und mehr als Teil des Windes.
Es fing an zu regnen, das Geräusch vermischte sich mit dem Plätschern des Flusses und dem Gesang der Bäume.Kleine Bäche stürzten die Stämme hinunter, wanden sich durch Mooswiesen und Rindenschluchten. Die ganze Zeit ritt ich den
Sturm. Ich hätte nicht nasser sein können. Ich hätte mich nicht freier fühlen können.
Als sich der Sturm endlich legte, erschien die Welt wie neugeboren. Sonnenstrahlen tanzten auf den regengebadeten Blättern.
Krause Nebelsäulen stiegen aus den Lichtungen auf. Die Farben des Waldes leuchteten klarer, seine Düfte rochen frischer. Und
ich verstand zum ersten Mal in meinem Leben, dass die Erde immer neu gemacht wurde, dass sich das Leben ständig erneuerte.
Dass heute der Nachmittag eines bestimmten Tages sein mochte, aber dass es immer noch der Morgen der Schöpfung war.
IV
DER LUMPENHAUFEN
D as Licht des späten Nachmittags steigerte schon die Farben und vertiefte die Schatten, bevor ich den ersten leichten Stich
im Magen spürte. Rasch verstärkte sich das Stechen. Ich war hungrig. Hungrig wie ein Wolf.
Bei einem letzten Blick auf die Landschaft sah ich, wie ein goldenes Lichtnetz über die Hügel kroch. Dann stieg ich von meinem
luftigen Sitz herunter. Als ich endlich den untersten Ast erreichte, der noch nass vom Regen war, schlang ich die Hände um
die Rinde und ließ mich über die Seite fallen. Einen Augenblick hing ich da und schaukelte wie der Baum im Sturm. Aus irgendeinem
Grund hatte mich der gewohnte Schmerz zwischen den Schulterblättern nicht geplagt, seit ich hinaufgeklettert war. Ich ließ
los und fiel auf ein Nadelbett.
Sanft legte ich die Hand auf den zerfurchten Stamm des alten Baums. Ich konnte fast spüren, wie das Harz durch den großen,
säulenartigen Körper stieg, so gleichmäßig, wie das Blut durch den meinen floss. Mit einem leichten Klopfen bedankte ich mich.
Zwischen den Nadeln am Fuß der Tanne bemerkte ich bräunliche Pilze mit zottigen Mähnen. Weil ich mit Branwen so oft auf Nahrungssuche
gewesen war, wusste ich, dass man sie gut essen konnte. Ich stürzte mich darauf und hatte in kurzer Zeit alle aufgegessen
– sowie dieWurzeln einer Pflanze mit purpurfarbenen Blättern, die in der Nähe wuchs.
Ich fand den Rehpfad und folgte ihm zurück zum Bach. Mit den Händen schöpfte ich kaltes Wasser. Es kühlte meine Zähne und
weckte meine Zunge. Beschwingt kehrte ich zum Treidelpfad zurück, der zum Dorf führte.
Ich ging über die Brücke. Hinter der Mühle drängten sich die Strohdächer von Caer Vedwyd wie Heubündel. Unter einem von ihnen
war die Frau, die sich meine Mutter nannte, vielleicht gerade dabei, ihre Tränke zu mischen oder jemandes Wunde zu verbinden,
verschwiegen und still wie immer. Zu meiner Überraschung ertappte ich mich dabei, wie ich hoffte, dass dieser Ort mir eines
Tages doch noch ein richtiges Zuhause sein würde.
Als ich ins Dorf kam, hörte ich die Rufe der anderen Jungen beim Spiel. Mein erster Impuls war, in eines meiner üblichen Verstecke
zu laufen. Doch . . . ich spürte ein neues Selbstbewusstsein. Heute war der Tag, an dem ich mitspielen wollte.
Ich zögerte. Und wenn Dinatius in der Nähe war? Ich musste die Schmiede im Auge behalten. Aber mit der Zeit könnte selbst
Dinatius umgänglicher werden.
Langsam ging ich näher. Unter der großen Eiche, wo die drei Hauptwege zusammenliefen, verkauften Bauern und Händler ihre Waren.
Pferde und Esel waren an Pfählen festgebunden und schlugen mit den Schwänzen nach Fliegen. In der Nähe unterhielt ein melancholischer
Barde ein paar Zuhörer mit einer Ballade – bis einer der wedelnden Schwänze ihm direkt in den Mund schlug. Als er aufhörte
zu würgen und weitersingen konnte, hatte er sein Publikum verloren.
Vier Jungen standen am anderen Ende des Platzes und warfen Steine und Stöcke auf ein Ziel – einen Lumpenhaufen am Fuß der
Eiche. Als ich sah, dass Dinatius nicht dabei war, atmete ich leichter. Bald war ich so nahe, dass ich einem der Jungen zurufen
konnte: »Wie triffst du heute, Lud?«
Ein untersetzter, rotblonder Junge drehte sich zu mir um. Mit seinem runden Gesicht und den kleinen Augen sah er aus, als
wäre er ständig erstaunt. Obwohl er bisher nicht unfreundlich zu mir gewesen war, schien er heute vorsichtig zu sein. Ich
konnte nicht sagen, ob er wegen Dinatius besorgt war – oder meinetwegen.
Ich trat näher.
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