Merlin - Wie alles begann
ihren braunen Locken. Obwohl ich es im düsteren Licht des Wäldchens nicht genau erkennen konnte, kam es mir vor, als wären
ihre Ohren leicht dreieckig geformt, oben spitz wie meine eigenen.
Bedeutete das, dass sie wie ich den Spott anderer ertragen hatte, weil sie Ohren wie ein Dämon hatte? Oder . . . könnte jeder
in diesem seltsamen Land spitze Ohrenhaben? War es möglich, dass dieses Mädchen und ich tatsächlich zur selben Rasse gehörten?
Mit einem Ruck fand ich in die Wirklichkeit zurück. Genauso wahrscheinlich war es, dass die Engel selbst spitze Ohren hatten.
Oder dass Dämonen mit hübschen weißen Flügeln umherflogen!
Ich sah, wie sie horchte. »Hörst du etwas?«
Ihre graublauen Augen wandten sich mir wieder zu. »Nur die Worte meiner Freunde. Sie sagen mir, dass ein Außenseiter im Wald
ist, aber das weiß ich schon.« Nach einer Pause fuhr sie fort: »Sie sagen mir auch,
gib Acht
. Ist das nötig?«
Ich dachte an die Stimme der Muschel und straffte mich. »Man sollte immer Acht geben. Aber vor mir brauchst du keine Angst
zu haben.«
Das schien sie zu belustigen. »Sehe ich ängstlich aus?«
»Nein.« Auch ich grinste. »Ich bin nicht sehr zum Fürchten, nehme ich an.«
»Nicht sehr.«
»Diese Freunde, von denen du gesprochen hast. Sind es . . . die Bäume?«
»Ja.«
»Und du sprichst mit ihnen?«
Wieder hallte das glockengleiche Lachen durch das Gehölz. »Natürlich! Genau wie mit den Vögeln und Tieren und Flüssen.«
»Und den Muscheln?«
»Natürlich. Alles hat seine Sprache. Du musst nur lernen sie zu hören.« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Warum verstehst du
so wenig?«
»Ich komme von . . . weit her.«
»Deshalb weißt du nichts vom Drumawald und seinen Bräuchen.« Sie runzelte die Stirn. »Aber über den Galator weißt du Bescheid.«
»Nur ein wenig, wie gesagt.« Gequält gab ich zu: »Obwohl ich alles gesagt hätte, nur um diese schrecklichen Äste loszuwerden.«
Die Tannenäste über mir schwankten leicht und ich duckte mich.
»Du weißt mehr als ein wenig über den Galator«, erklärte das Mädchen zuversichtlich. »Eines Tages wirst du es mir sagen.«
Sie ging los, aus irgendeinem Grund überzeugt, dass ich ihr folgte. »Aber sag mir zuerst deinen Namen.«
Vorsichtig stieg ich über einen heruntergefallenen Ast. »Wohin gehen wir?«
»Etwas essen natürlich.« Sie bog nach links zu einem Pfad, den nur sie im hüfthohen Farn sah. »Sagst du mir jetzt deinen Namen?«
»Emrys.«
Sie schaute mich an, als würde sie mir nicht ganz glauben. Aber sie sagte nichts.
»Und wie heißt du?«
Sie blieb unter einer Buche stehen, die zwar alt und krumm war, aber eine glatte Rinde hatte wie ein junger Baum. »Mein Freund
sagt es dir.«
Die Blätter der alten Buche rauschten leise. Zuerst verriet mir das Geräusch gar nichts. Fragend schaute ich das Mädchen an.
Dann begann ich langsam einen besonderen Rhythmus herauszuhören,
Rrrhhhiiiaaa. Rrrhhhiiiaaa. Rrrhhhiiiaaa.
»Du heißt Rhia?«
Sie ging weiter zwischen kräftigen, hohen, langnadligen Kiefern hindurch. »Rhiannon heiße ich eigentlich, obwohl ich nicht
weiß, warum. Die Bäume nennen mich Rhia.«
Neugierig fragte ich: »Du weißt nicht, warum? Haben es dir deine Eltern nicht gesagt?«
Sie sprang über einen trägen Bach, in dem eine dicke Stockente zwischen den Binsen trieb. »Ich habe meine Familie verloren,
als ich noch sehr klein war. Wie ein junger Vogel, der aus dem Nest fällt, bevor er fliegen kann.« Ohne sich nach mir umzudrehen
setzte sie hinzu: »Oder wie du.«
Ich blieb stehen und packte sie am Arm. Als ich sah, dass ein paar Äste sich drohend herunterbogen, ließ ich sie los. »Warum
sagst du das?«
Sie sah mir direkt in die Augen. »Du wirkst verlassen, deshalb.«
Wortlos gingen wir weiter in den Wald, an einem Fuchs mit rotem Schwanz vorbei, der gerade ein Waldhuhn fraß und sich dabei
nicht stören ließ. Das Gelände stieg an, ein steiler Hügel lag vor uns. Doch auch als das Gehen mühsamer wurde, mäßigte Rhia
ihr Tempo nicht. Es kam mir eher vor, als ginge sie schneller. Schwer atmend mühte ich mich mit ihr Schritt zu halten.
»Du bist wie . . . Atalanta.«
Rhia verlangsamte ihren Schritt und schaute mich fragend an. »Wer ist das?«
»Atalanta«, keuchte ich. »Eine Heldin . . . in einer griechischen Sage . . . die so schnell . . . laufen konnte . . . dass
niemand . . . sie einholte . . . bis jemand sie . . . mit ein paar . . . goldenen Äpfeln . . .
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