Merlin - Wie alles begann
in der
Nähe und flatterte von Ast zu Ast. Ich war froh, dass meine Schulter eine Erholungspause hatte, und ärgerte mich nicht wie
noch vor kurzem über seinen wachsamen Blick.
Tiere aller Art waren unterwegs. Vögel mit kleinen grauen Körpern oder leuchtend grünen Flügeln oder großen gelben Schnäbeln
flogen über uns, manche in Schwärmen, andere allein. Großäugige Eichhörnchen, Biber, ein Reh mit seinem Kitz und eine goldfarbene
Schlange überholten mich. In der Ferne heulten Wölfe. Einmal schlenderte eine riesige Gestalt, so schwarz wie die Nacht, zwischen
den Bäumen hervor. Ich erstarrte vor Angst, bis zwei kleinere Körper dicht dahinter sichtbar wurden – und ich wusste, dass
ich einer Bärenfamilie begegnet war. Alle diese Geschöpfe sahen so ängstlich aus wie der Hirsch. Und alle, schienes, liefen in die entgegengesetzte Richtung von Rhia und mir.
Spät am Morgen tropfte mir schon der Schweiß von der Stirn, als ich auf eine schattige Lichtung trat. Zedern, die sehr alt
zu sein schienen, standen in einem perfekten Kreis. Mit ihrer zottigen Rinde hätte man sie auf den ersten Blick für eine Versammlung
alter Männer mit langen Mähnen und Bärten halten können. Selbst das Geräusch ihrer leise schwankenden Äste unterschied sich
vom Geflüster der anderen Bäume. Es klang mehr wie das feierliche, traurige Klagelied von Menschen bei einer Beerdigung.
Dann sah ich mitten auf der Lichtung einen schmalen Erdhügel, nicht breiter als mein Körper und mindestens doppelt so lang.
Er war von runden, polierten Steinen umgeben, die schimmerten wie blaues Eis. Vorsichtig ging ich näher.
Verdruss flog zurück auf meine Schulter. Doch statt sich wie gewöhnlich niederzulassen, lief er mit stechenden, raschen Schritten
hin und her.
Ich hielt den Atem an.
Hier war ich schon einmal.
Der Gedanke – die Überzeugung – überkam mich einen flüchtigen Augenblick lang. Wie der Duft einer Blume sich bemerkbar macht
und verschwindet, bevor man Zeit hat, seine Herkunft festzustellen, streifte mich kurz eine schwache Erinnerung und floh.
Vielleicht war es nur ein Traum oder die Erinnerung an einen Traum. Doch ich konnte das Gefühl nicht abschütteln, dass dieser
Hügel innerhalb des Zedernkreises mir auf undefinierbare Art vertraut war.
»Emrys! Komm!«
Rhias Ruf brachte mich in die Gegenwart zurück. Miteinem letzten Blick auf den Hügel und die trauernden Zedern verließ ich die Lichtung. Bald hörte ich das seltsame Summen nicht
mehr. Aber in den dunkelsten Ecken meines Bewusstseins spukte es weiter.
Das Gelände wurde zunehmend feuchter. Frösche pfiffen und quakten so laut, dass ich manchmal meinen eigenen Atem nicht hören
konnte. Reiher, Kraniche und andere Wasservögel riefen einander in schaurigen, hallenden Stimmen. Die Luft roch nach faulenden
Pflanzen. Endlich sah ich Rhia im hohen Gras am Rande eines dunklen Landstreifens stehen. Es war ein Sumpf.
Ungeduldig winkte sie. »Komm!«
Skeptisch betrachtete ich den Sumpf. »Müssen wir da hinüber?«
»Es ist der kürzeste Weg.«
»Bist du sicher?«
»Nein. Aber die Zeit wird knapp – hast du all die fliehenden Tiere gesehen? –, und wenn wir es schaffen, könnten wir eine Stunde oder mehr sparen. Auf der anderen Seite des Sumpfs sind die Hügel der
großen Elusa.«
Sie wandte sich dem Sumpf zu, aber ich fasste sie am Arm. »Wer ist die große Elusa?«
Sie machte sich los. »Ich weiß es nicht genau! Ihre wahre Identität ist ein Geheimnis, selbst für Arbassa. Ich weiß nur, dass
sie der Legende nach zwischen den lebenden Steinen der umnebelten Hügel wohnt. Dass sie Dinge weiß, die niemand sonst weiß,
darunter manches, was noch nicht geschehen ist. Und dass sie alt ist, sehr alt. Ich habe sogar gehört, dass sie dabei war,
als Dagda den allerersten Riesen aus einer Bergwand schnitt.«
»Hast du gesagt . . . lebende Steine?«
»So werden sie genannt. Ich weiß nicht, warum.«
Ich schaute auf das Moor mit den toten Bäumen und stehenden Teichen. Ein Kranich rief in der Ferne. »Weißt du genau, dass
dieses Geschöpf uns helfen wird?«
»Nein . . . aber vielleicht. Wenn sie uns nicht zuerst frisst.«
Ich fuhr zurück. »Uns frisst?«
»Der Legende nach hat sie immer Hunger. Und ist wilder als ein gefangener Riese.«
Verdruss legte den Kopf schief, schaute Rhia an und pfiff einen langen, tiefen Ton.
Sie zog die Augenbrauen hoch.
»Was ist los?«
»Verdruss verspricht uns zu
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