Merlin - Wie alles begann
dem Rücken und legte den Kopf schief.
Spontan blinzelte ich ihm zu.
Verdruss blinzelte zurück.
Rhia untersuchte weiter den geborstenen Stamm. »Wenn ich nur die Bienen ablenken könnte, nur ein paar Sekunden. Das würde
reichen.«
Mit einem plötzlichen Schrei startete Verdruss wieder. Er flog direkt in den Schwarm. Er stieg und tauchte zwischen den Bienen,
schlug mit den Flügeln nach ihnen und verschwand dann im Nebel. Der Schwarm jagte ihm nach.
»Verrückt! Dieser Vogel liebt einen Kampf so sehr wie du . . .«
Ich beendete den Satz nicht, weil Rhia schon auf der Suche nach den Honigvorräten der Bienen den Stamm erklomm. Ich horchte
auf irgendwelches Summen, hörte aber nichts. Ich lief zu ihr. Als ich mich an einem niedrigen Ast hochzog, knackte der Stamm
und schwankte unsicher.
»Vorsicht, Rhia!«, rief ich. »Das ganze Ding kann jeden Moment umfallen.«
Aber sie hörte nichts. Sie hatte sich schon eifrig über die gezackte Spitze des Stamms gebeugt.
Von meinem Ast aus tat ich dasselbe. Ein goldener Honigteich zwischen brustdicken Wabenwänden lag unter uns. Abgebrochene
Zweige, Rindenstückchen und Wabenteile trieben in dem zähen Sirup. Ich tauchte die Hand hinein, schöpfte und trank die süße,
klebrige Flüssigkeit. Nie im Leben hatte ich so guten Honig gekostet. Rhia war offenbar der gleichen Meinung, immer wieder
griff sie mit beiden Händen zu, Kinn und Wangen tropften.
»Wir sollten gehen«, sagte sie schließlich. »Noch einen letzten Schluck.«
Ich sah eine große Honigwabe direkt unter mir treiben und packte sie. Doch als ich zog, gab sie nicht nach. Ich griff fester
zu und zerrte mit aller Kraft.
In diesem Moment tauchte der Gegenstand mit ohrenbetäubendem Geheul aus dem Honigteich. Plötzlich merkte ich, dass ich keine
Honigwabe gepackt hielt, sondern die Spitze einer riesigen Knollennase. Rhia schrie, als ich einen Ruck zur Seite machte,
um dem honigbedeckten Kopf auszuweichen, der sich uns entgegenhob. Da splitterte der Fuß des dicken Stamms, neigte sich und
barst. Er rollte mit uns den Abhang hinunter.
XX
SHIM
R hia und ich stürzten den Hang hinunter. Vor uns rollte und hüpfte der schwere Stamm voller Honig und dem, was aus seinen Tiefen
heraufgekocht war, er wurde immer schneller. Schließlich knallte er gegen einen Felsen und zersplitterte.
Als ich endlich zum Stillstand kam, drehte sich die Welt um mich herum eine Zeit lang weiter. Halb benommen zwang ich mich
aufzusitzen. »Rhia.«
»Hier.« Sie hob direkt unter mir den Kopf aus dem Gras, ihre braunen Haare waren mit Honig und Zweigen verfilzt.
Gleichzeitig wandten wir uns dem Stöhnen zu, das aus den Resten des Stamms kam. Rhia fasste nach meiner Hand und schlang ihren
Zeigefinger um meinen. Wir standen auf und schlichen vorsichtig näher.
Wir sahen einen kleinen Hügel, völlig mit Honig, Zweigen und Blättern bedeckt, der neben dem Felsen lag. Dann rollte der Hügel
herum, schüttelte sich heftig und setzte sich auf.
»Es ist ein Mann«, sagte ich erstaunt. »Ein winzig kleiner Mann.«
»Ein Zwerg«, verbesserte Rhia. »Ich wusste nicht, dass es noch Zwerge in Fincayra gibt.«
Die rosa Augen in der Honigmaske öffneten sich. »Ihr beide haben ganz Unrecht. Total, schrecklich, ekelhaft Unrecht! Ich sein
kein Zwerg.«
Rhia machte ein skeptisches Gesicht. »Nein? Was bist du dann?«
Der kleine Mann blies eine Ladung Honig aus seiner Knollennase. Als ihm noch mehr Honig übers Kinn lief, schleckte er Finger,
Handflächen und Knöchel ab. Nachdem seine Hände sauber waren, sah er nervös von einer Seite zur anderen. »Du sein nicht eine
Freundin des Königs, oder?«
Rhia sah ihn finster an. »Natürlich nicht.«
»Und was sein mit deinem schwarzhaarigen Freund da, der andere Leute an Nasen ziehen?«
»Er auch nicht.«
»Bestimmt, definitiv, absolut nicht?«
Rhia musste lächeln. »Bestimmt, definitiv, absolut nicht.«
»Na gut.« Der kleine Mann löste sich mühsam vom Boden, damit er aufstehen konnte. Er ging auf Rhia zu. Obwohl er ihr nur gerade
bis übers Knie reichte, warf er stolz den Kopf zurück.
»Ich sein kein Zwerg. Ich sein ein Riese.«
»Ein was?« Ich fing an zu lachen.
Der kleine Mann funkelte mich aus glänzenden rosa Augen an. »Ich sein ein Riese.« Dann schien sein Stolz zu schwinden. Er
machte ein trauriges Gesicht, sein Rücken wurde rund. »Ich sein ein sehr, sehr, sehr
kleiner
Riese. Ich wünschen, ich wahrhaft wünschen, dass ich groß sein
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