Merlin - Wie alles begann
Flügel, die nie mehr fliegen würden, drehte sich mir der Magen um.
Dann verwandelte sich der Alleahvogel, während wir verblüfft zuschauten. Wie eine Schlange sich häutet, warf er seine bisherige
Haut ab. Zurück blieb eine brüchige, fast durchsichtige Hülle mit Furchen dort, wo die Federn gewesen waren. Inzwischen lösten
sich die Flügel des Vogels auf, während der gefiederte Schwanz zu einem langen, sich windenden Körper wurde, der mit stumpfen
roten Schuppen bedeckt war. Der Kopf zog sich in die Länge, kräftige Kiefer mit gezackten Zähnen bildeten sich, die mühelos
eine Hand abbeißen konnten. Nur die Augen, so rot wie die Schuppen, blieben unverändert. Das schlangenartige Geschöpf lag
tot am Boden, die dünne Haut seines früheren Körpers klebte an seiner Seite.
Ich fasste Rhia am Arm. »Was hat das zu bedeuten?«
Langsam wandte sie mir das Gesicht zu, es war völlig blutleer. »Es bedeutet, dass dein Falke uns das Leben gerettet hat.«
»Was ist dieses . . . Ding da?«
»Das ist – oder war – ein Wechselgeist. Er kann sich verwandeln, in was er will, deshalb ist er besonders gefährlich.«
»Dieses Maul sieht ziemlich gefährlich aus.«
Erbittert stieß Rhia mit einem Stock in die abgeworfene Haut. »Wie gesagt, ein Wechselgeist kann sich in alles verwandeln.
Aber da ist immer ein Fehler, etwas, das ihn verrät, wenn du scharf genug hinschaust.«
»Der Vogel hatte nur ein Bein.«
Rhia zeigte auf die immer noch flüsternden Zweige hinter der toten Baumgruppe. »Die Bäume haben versucht mich zu warnen, aber
ich habe nicht zugehört. Ein Wechselgeist in der Druma! Das hat es noch nie zuvor gegeben. Oh, Emrys . . . Mein Traum wird
vor meinen Augen wahr!«
Ich bückte mich und streckte eine Hand nach dem Merlin aus, der jetzt sein Gefieder putzte. Verdruss legte den Kopf auf eine
Seite, dann auf die andere, und sprang auf mein Handgelenk. Mit schnellen seitlichen Schritten kletterte er meinen Arm hinauf
und saß wieder auf meiner Schulter. Doch diesmal war mir sein Gewicht nicht so lästig.
Ich schaute Rhia an, die, Schlimmes ahnend, die Stirn gerunzelt hatte. »Wir alle haben diesen kleinen Kämpfer falsch eingeschätzt.
Sogar Arbassa hat sich geirrt.«
Rhia schüttelte den Kopf. »Arbassa hat sich nicht geirrt.«
»Aber. . .«
»Als Arbassa die Tür schloss, wollte sie nicht den Merlin aussperren.« Sie holte tief Luft. »
Dich
wollte sie aussperren.«
Ich trat einen Schritt zurück. »Der Baum glaubt, ich könnte dir gefährlich werden?«
»Ja.«
»Glaubst du das auch?«
»Ja. Aber ich hatte beschlossen dich trotzdem einzulassen.«
»Warum? Das war vor deinem Traum.«
Sie schaute mich merkwürdig an. »Eines Tages erzähle ich es dir vielleicht.«
XVIII
DER NAME DES KÖNIGS
I ch wandte mein zweites Gesicht von der Haut des Wechselgeists, die brüchig war wie ein welkes Blatt, den lebendigen, flüsternden
Ästen der Druma zu. »Erzähl mir, was mit Fincayra geschieht.«
Rhia schaute mich düster an – das war bei ihr ein ganz unnatürlicher Gesichtsausdruck. »Ich weiß nur wenig, nur das, was ich
von den Bäumen erfahren habe.«
»Erzähl mir, was du weißt.«
Sie griff nach mir und schlang einen Zeigefinger um meinen. »Es erinnert mich an einen Korb mit süßen Beeren, die sauer werden.
Zu sauer zum Essen.« Sie seufzte. »Vor ein paar Jahren geschahen merkwürdige Dinge – böse Dinge. Das Land östlich des Flusses,
einst fast so grün und voller Leben wie dieser Wald, fing an zu veröden. Und wie das Land, so verdunkelte sich auch der Himmel.
Aber bis heute war die Druma immer sicher. Ihre Kraft war so stark, dass Feinde es nicht wagten, sie zu betreten. Bis jetzt.«
»Wie viele Geister gibt es?«
Verdruss flatterte mit den Flügeln, dann beruhigte er sich wieder.
»Ich weiß es nicht.« Ihr Gesicht wurde noch finsterer. »Aber die Wechselgeister sind noch nicht einmal unsere schlimmsten
Feinde. Es gibt Kriegergoblins. Früher blieben sie unter der Erde in ihren Höhlen. Aber jetzt laufensie frei herum und töten nur so zum Spaß. Es gibt Ghule – die unsterblichen Krieger, die das verhüllte Schloss bewachen. Und
es gibt Stangmar, den König, der sie alle befehligt.«
Bei diesem Namen fingen die Äste rund um die toten Bäume an zu zittern und zu knacken. Als sie wieder still waren, fragte
ich: »Wer ist dieser König?«
Rhia biss sich auf die Lippe. »Stangmar ist schrecklich – zu schrecklich für Worte. Man kann
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