Merlin - Wie alles begann
Ich glaube, Branwen hatte Recht. Wenn jemand – Gott, Dagda oder wer auch immer – dir besondere Kräfte gab, sollst
du sie gebrauchen. Genau wie der unaufhörliche Fluss seine eigenen Kräfte zu gebrauchen hat. Du bist alles, was du bist.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich soll also mein Versprechen vergessen?«
»Denk daran, aber frage dich, ob es wirklich das ist, was dieser Gott von dir will.«
»Er gab mir meine Sehkraft zurück.«
»Er gab dir deine
Kräfte
zurück.«
»Das ist verrückt!«, rief ich. »Du hast keine Ahnung . . .«
Ein lautes Schnauben aus der Nähe unterbrach mich. Ich sprang hoch, ich glaubte, es käme von einem Keiler. Dann ertönte es
wieder und mir wurde klar, dass es nichts mit einem Keiler zu tun hatte. Es war Shim. Er war auf der Sandbank eingeschlafen.
Rhia betrachtete die winzige Gestalt. »Er schnarcht so laut wie ein richtiger Riese.«
»Bei ihm siehst du wenigstens auf einen Blick, was er wirklich ist. Bei mir ist es nicht so einfach.«
Sie sah mich wieder an. »Du machst dir zu viele Gedanken darüber, wer du bist. Sei einfach du und du bekommst es mit der Zeit
heraus.«
»Mit der Zeit!« Wütend stand ich auf. »Versuch mir nichts über mein Leben zu sagen. Kümmere dich um deines, bitte.«
Sie stellte sich vor mich. »Es könnte dir helfen auch über anderer Menschen Leben nachzudenken! Ich habe noch nie jemand gesehen,
der so mit sich beschäftigt war. Du bist der selbstsüchtigste Mensch, den ich je getroffen habe! Selbst wenn du . . .« Sie
unterbrach sich. »Vergiss es. Geh einfach weg und mach dir weiter Sorgen um dich.«
»Ich glaube, genau das werde ich tun.«
Ich stapfte davon in den dichten Wald beim unaufhörlichen Fluss. Zu wütend, um darauf zu achten, wo ich ging,stürmte ich durchs Unterholz, schlug mir die Schienbeine an und zerkratzte mir die Schenkel. Das machte mich noch wütender
und ich fluchte laut. Schließlich setzte ich mich auf einen faulenden Stamm, der schon fast ein Erdhügel war.
Plötzlich hörte ich eine raue Stimme rufen: »Fasst ihn!«
Zwei Kriegergoblins, die gleichen, denen wir oben am Fluss entkommen waren, sprangen aus dem Dickicht und warfen mich zu Boden.
Einer von ihnen richtete sein Schwert auf meine Brust. Der andere zog einen großen Sack aus grob gewebtem braunem Stoff hervor.
»Diesmal keine Tricks«, knurrte der Goblin mit dem Schwert. Mit der dicken, graugrünen Hand winkte er dem anderen. »Steck
ihn in den Sack.«
In diesem Moment kam ein durchdringender Pfiff vom Himmel. Der Goblin mit dem Schwert stieß einen Schrei aus und fiel zurück,
seine Arme bluteten von scharfen Krallenschlägen.
»Verdruss!« Ich rollte aus dem Getümmel und sprang auf die Füße.
Der Merlin hieb mit seinen Krallen, schlug die Flügel ins Gesicht des Goblins und drängte ihn so mehrere Schritt zurück. Jedes
Mal wenn der Goblin mit seinem Schwert zuschlug, flog Verdruss ihm ins Gesicht und kratzte nach den Augen unter dem spitzen
Helm. Trotz des ungeheuren Größenvorteils war der Goblin der Wildheit des kleinen Falken nicht gewachsen.
Aber Verdruss hatte nicht damit gerechnet, dass der andere Goblin sich in die Schlacht stürzen würde. Bevor ich noch eine
Warnung rufen konnte, peitschte der zweite Krieger mit seiner kräftigen Hand durch die Luft und fingden Falken mitten im Flug. Verdruss krachte in einen Baumstamm und fiel betäubt zu Boden. Dort lag er ganz still, mit ausgebreiteten
Flügeln.
Ich sah gerade noch, wie der erste Goblin sein Schwert hob, um den Merlin in Stücke zu hauen. Dann schlug mir etwas auf den
Kopf und der Tag wurde zur Nacht.
XXIV
DER TAUSCH
A ls ich wieder bei Bewusstsein war, setzte ich mich mit einem Ruck auf. Obwohl mir noch schwindelte, konnte ich die dicken
Äste der Bäume um mich herum erkennen. Ich atmete die duftende feuchte Luft ein. Ich horchte auf das leise Flüstern der Zweige,
das seltsam trübsinnig klang. Und ich wusste, dass ich noch im Drumawald sein musste.
Nirgendwo ein Zeichen von den Goblins. Oder von Verdruss. War alles ein böser Traum gewesen? Warum schmerzte dann mein Kopf
so?
»Ich sehen, du sein wach.«
Überrascht drehte ich mich um. »Shim! Was ist passiert?«
Der kleine Riese musterte mich argwöhnisch. »Du sein nie sehr nett zu mir. Werden du mir wehtun, wenn ich dir erzählen?«
»Nein, nein. Da kannst du ganz ruhig sein. Ich werde dir nicht wehtun. Erzähl mir nur, was geschehen ist.«
Immer noch zögernd rieb sich Shim
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