Merlin - Wie alles begann
wieder auf und knurrte wild. »Gleich tun es dir leider.« Er ballte die Faust und hob sie wieder zum Schlag.
In diesem Moment wurde ich auf den Ast in meinerHand aufmerksam. Zu meinem Erstaunen fing die Rinde an sich zu schälen. Zugleich brachen die kleineren Zweige am Stamm nacheinander
ab und warfen ihre Nadeln in meinen Schoß. Die Rinde rollte sich zu großen Locken und fiel dann zu Boden, als wäre sie von
einem unsichtbaren Messer abrasiert worden.
Als Shim das sah, ließ er die Faust sinken und schaute mich verwundert an.
Inzwischen war der Ast in meinem Schoß kein Ast mehr. Es war ein gerader, gedrungener Stock, dick und knorrig oben, spitz
zulaufend unten. Als ich ihn hob, sah ich, dass er einen Kopf größer war als ich. Während ich ihn zwischen den Händen drehte,
spürte ich die glatte Holzhaut. Plötzlich verstand ich.
Mit dem Stock als Stütze stand ich aus dem Farn auf. Unter der duftenden Tanne dachte ich daran, wie ich unbeholfen versucht
hatte einen Stock zu finden, als ich gerade in den Wald gekommen war. Dankbar senkte ich vor dem Baum den Kopf. Jetzt hatte
ich meinen Stock. Und noch viel wichtiger war mir, dass ich jetzt ein kleines Stück der Druma hatte, das mit mir über die
Grenze gehen würde.
»Du schlagen mich nicht mit diesem Stock, hoffen ich«, sagte Shim ziemlich kleinlaut.
Ich schaute ihn streng an. »Wenn du mich nicht schlägst, dann schlage ich dich auch nicht.«
Die kleine Gestalt straffte sich. »Ich wollen dir nicht wehtun.«
Ich zog eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts. Mit dem neuen Stock in der Hand ging ich flussabwärts, den eiförmigen Felsen
zu. Shim kämpfte sich hinter mirdurchs Gebüsch und murrte so viel wie zuvor, aber nicht mehr ganz so laut.
Ein paar Minuten später waren wir angelangt. Hier weitete sich der Fluss beträchtlich und strömte über einen Grund aus weißen
Steinen. Wie ich gehofft hatte, sah das Wasser ziemlich flach aus, auch wenn die Strömung noch stark war. Hinter den Felsen
waren im Lehm an beiden Ufern die Spuren großer, schwerer Stiefel.
»Goblins«, sagte Shim mit einem Blick auf die Abdrücke.
»Bestimmt hat es ihnen der unaufhörliche Fluss nicht leicht gemacht, ihn zu überqueren.«
Shim schaute zu mir hoch. »Persönlich ich hassen den Fluss zu überqueren. Wirklich, ehrlich, wahrhaftig.«
Ich lehnte mich auf meinen Stock mit dem knorrigen Griff. »Du musst nicht hinüber. Es ist deine Entscheidung.«
»Wie weit werden du gehen?«
»Bis dorthin, wo Rhia ist! Weil diese Goblins glauben, dass sie den Galator im Sack haben, gehen sie vermutlich zu Stangmars
Schloss. Ich weiß nicht, ob wir sie einholen können, bevor sie dort sind, aber wir müssen es versuchen. Es ist die einzige
Hoffnung, die uns und Rhia bleibt.«
Ich richtete mein zweites Gesicht auf die umschatteten Hügel in der Ferne. Eine Wolkenwand, schwärzer als alle Sturmwolken,
die ich je gesehen hatte, stand über ihnen und überzog die östlichsten Hügel mit völliger Dunkelheit. Ich erinnerte mich,
wie Rhia den Standort des verhüllten Schlosses beschrieben hatte:
auf dem dunkelsten der dunklen Hügel, wo die Nacht niemals endet.
Ich musste sie finden, bevor sie in diesen Hügeln war!
Wo die Nacht niemals
endet.
In solcher Dunkelheit würde ich nichts sehen können. Und fast nichts hoffen.
Shim schluckte. »Na schön. Ich gehen. Vielleicht nicht ganz bis zum Schloss, aber ich gehen.«
»Hast du dir das gut überlegt? Dort drüben werden wir nicht viel Honig finden.«
Er antwortete, indem er in den Fluss watete. Ein paar Schritte kam er trotz der Strömung voran. Doch als er sich dem Stein
näherte, der zum Teil unter Wasser lag, stolperte er. Plötzlich war er in tieferem Wasser. Er schrie und fuchtelte mit den
kleinen Armen. Gerade bevor er unterging, sprang ich ihm zu Hilfe. Ich setzte ihn auf meine Schultern und watete durch den
Fluss.
»Danke«, keuchte Shim. Er schüttelte sich und spritzte mir dabei Wasser ins Gesicht. »Dieses Wasser sein schrecklich nass.«
Vorsichtig ging ich durch die Wellen und benutzte dabei meinen Stock als Stütze. »Ich wäre dir dankbar, wenn du die Hände
von meiner Nase lassen würdest.«
»Aber ich brauchen einen Griff zum Festhalten.«
»Halte dich an deiner eigenen Nase fest!« Jetzt war ich überzeugt, dass es ein Fehler gewesen war, ihn mitzunehmen.
»Na schön.« Seine Stimme klang so nasal, dass ich wusste, er befolgte meinen Rat.
Bei jedem Schritt durch die schnelle
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