Merlin - Wie alles begann
über eine gute Lektüre am Ende
eines Tages mit guter Lektüre.«
Wider Willen grinste ich. »So viele Bücher habe ich noch nie gesehen.«
Der Mann nickte. »Geschichten helfen mir. Zu leben. Zu arbeiten. Den verborgenen Sinn hinter jedem Traum, jedem Blatt, jedem
Tautropfen zu verstehen.«
Ich merkte, dass ich blass wurde. Hatte Branwen einmal nicht fast das Gleiche zu mir gesagt?
»Ich wollte nur«, fuhr der Mann fort, »dass ich mehr Zeit hätte, sie zu genießen. Wie du sicher weißt, haben wir heutzutage
andere Zerstreuungen.«
»Du meinst Goblins und Ähnliches.«
»Ja. Aber das Ähnliche ist es, was mir am meisten missfällt.« Er schüttelte ernst den Kopf und zog ein anderes Buch heraus.
»Deshalb habe ich im Moment so wenig Zeit für meine Lieblingsgeschichten. Ich versuche in den Büchern irgendeine Antwort zu
finden, damit Fincayras eigene Geschichte nicht vorzeitig enden muss.«
Ich nickte. »Die Zerstörung greift um sich.«
Ohne von seinem Buch aufzuschauen sagte er: »Das stimmt! Sophokles – kennst du die griechischen Tragödiendichter? – hat das
verblüffend ausgedrückt. In
Ödipus,
soweit ich mich erinnere.
Ein Rost zerstört die Blüten.
Und genau das ist es, was unserem Land widerfahren ist. Rost. Der die Blüten zerstört. Alles zerstört.«
Er zog ein anderes Buch heraus und legte es auf das erste in seinem Schoß. »Doch wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren.
Die Antwort könnte in irgendeinem vergessenenBand verborgen sein.
Es lohnt sich: Such in jedem Buch.
« Er hob den Kopf und sah etwas verlegen aus. »Entschuldige den Reim. Es scheint, sie kommen von selbst. Auch wenn ich versuche
keine mehr zu machen, gelingt es mir nicht. Wie ich sagte:
In diesen Seiten sind die Gescheiten
.«
Er räusperte sich. »Genug davon.« Er zeigte auf die Speisekammer. »Habt ihr Hunger? Bedient euch. Honig ist links bei den
Pflaumen. Es gibt auch verschiedenes Brot, zweimal gebacken nach Art der Slantos im Norden.«
»Von ihnen habe ich noch nie gehört«, gab ich zu.
»Das überrascht mich nicht.« Der Mann blätterte wieder in dem Buch. »Die meisten nördlichen Regionen sind unentdeckt und nicht
auf Karten verzeichnet. Und denk nur an die verlorenen Länder! Vielleicht gibt es dort Menschen, höchst ungewöhnliche Menschen,
die noch nie von jemandem aufgesucht wurden.«
Er beugte sich über das Buch und grübelte über eine bestimmte Seite nach. »Darf ich dich fragen, wie ihr heißt?«
»Mich nennt man Emrys.«
Der Mann hob den Kopf und sah mich eigenartig an. »Nennt? Du sagst das, als wärst du dir nicht sicher, ob es wirklich dein
Name ist.«
Ich biss mir auf die Lippe.
»Und dein Gefährte?«
Ich schaute zu der kleinen Gestalt hinüber, die in der Speisekammer Brot mit frischem Kleehonig vertilgte. »Das ist Shim.«
»Und ich bin Cairpré, ein bescheidener Poet. Vergib mir, dass ich zu zerstreut für einen guten Gastgeber bin.Aber es freut mich immer, einen Besucher willkommen zu heißen.«
Er klappte das Buch zu und ließ mich immer noch nicht aus den Augen. »Besonders einen Besucher, der mich so an eine gute Freundin
erinnert.«
Merkwürdige Angst stieg in mir auf, als ich fragte: »Was mag das für eine Freundin sein?«
»Ich war ein enger Freund . . . deiner Mutter.«
Die Worte stürzten schwer wie Ambosse auf mich ein. »Meiner – meiner Mutter?«
Cairpré ließ die Bücher von seinem Schoß auf den Stuhl fallen. Er kam zu mir und legte mir die Hand auf die Schulter. »Komm.
Wir haben viel zu bereden.«
XXVIII
EINE EINFACHE FRAGE
C airpré führte mich zu den beiden Schemeln bei der Speisekammer. Nachdem er einige Lederbände von den Sitzen geräumt hatte,
setzten wir uns. Shim war bereits aufs unterste Bord geklettert und schien sich dort, umgeben von reichlichen Vorräten für
sein Abendessen, sehr wohl zu fühlen.
Der Dichter beobachtete mich mehrere Sekunden lang schweigend. Dann sagte er: »Du hast dich verändert, seit ich dich zuletzt
gesehen habe. Und wie! So sehr, dass ich dich zuerst noch nicht einmal erkannt habe. Obwohl du wahrscheinlich das Gleiche
über mich sagen könntest. Schließlich ist es fünf oder sechs Jahre her.«
Ich konnte meine Erregung nicht verbergen. »Du hast mich schon zuvor gesehen? Und meine Mutter auch?«
Er schien enttäuscht. »Du erinnerst dich nicht?«
»Ich erinnere mich überhaupt nicht an meine Kindheit! Bis zu dem Tag, an dem ich an den Strand gespült wurde, ist alles ein
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