Merlin - Wie alles begann
halten.
Den ganzen Morgen – wenn so graue, düstere Stunden Morgen genannt werden konnten – wanderten wir über die offene Tundra. Die
Erde knirschte unter dem Gewicht unserer Schritte. Wir richteten uns nur nach dem Hügelkamm mit dem Einschnitt und folgten
weder Straßen noch Pfaden, obwohl wir verschiedene kreuzten. Doch die Straßen waren ausgestorben wie das Dorf, das bis auf
die Grundmauern niedergebrannt worden war.
Unsere Unterhaltung war so spärlich wie die Vegetation rundum und fast so spröde. Wir wussten beide, wie leicht wir von einem
Anhänger Stangmars entdeckt werden könnten. Selbst als Shim in seine Hemdtasche griff und mir anbot einen Kanten Ambrosiabrot
aus Cairprés Speisekammer mit mir zu teilen, tat er es wortlos. Ich nickte nur zum Dank und wir eilten weiter.
Als das Land allmählich zu den dunklen Hügeln hin anstieg, tat ich mein Bestes, uns zu führen. Obwohl der Einschnitt sich
nicht mehr gegen den Horizont abhob wie während des kurzen Schimmers, der den Sonnenaufgang markiert hatte, blieb er schwach
sichtbar. Doch er schien mir jetzt eher ein schlimmes Omen zu sein als eine Wegmarke.Angenommen, wir kämen irgendwie durch den Einschnitt, schafften es sogar bis zu Stangmars Schloss und stellten fest, dass
Rhia nicht dort war? Oder noch schlimmer, sie war dort, lebte aber nicht mehr?
Hin und wieder sahen wir karge Anzeichen einer Besiedlung. Ein altes Haus hier, ein verfallener Stall dort. Doch diese Bauten
wirkten so leblos wie die Landschaft. Sie standen da und verrotteten wie Knochen an einem Strand. Wenn noch jemand hier lebte,
dann im Verborgenen. Und die heimlichen Bewohner existierten ohne Bäume oder Gärten oder Grün in irgendeiner Form.
Dann spürte ich zu meiner Überraschung, dass etwas Grünes vor uns lag. Ich glaubte, es könnte ein Irrtum meiner schwachen
Sehkraft sein, und konzentrierte mich auf die Stelle. Doch die Farbe war tatsächlich da und stach von all den rostigen Braun-
und Grautönen ringsum ab. Als ich näher kam, wurde das Grün tiefer. Zugleich entdeckte ich die Umrisse von Bäumen in regelmäßigen
Reihen und Obst, das an ihren Ästen hing.
»Ein Obstgarten. Ist das zu glauben?«
Shim rieb seine Nase. »Kommen mir gefährlich vor.«
»Und siehst du das?« Ich zeigte auf etwas Kastenförmiges hinter den Bäumen »Da steht eine Art Hütte in der Senke.«
»Ich glauben, wir bleiben lieber weg. Wirklich, ehrlich, absolut.«
Ob es daran lag, dass die grünen Bäume mich an die Druma erinnerten oder weil die Hütte mir die Zeit mit der Frau ins Gedächtnis
rief, von der ich jetzt wusste, dass sie meine Mutter war, jedenfalls war meine Neugier geweckt und ich wollte mehr darüber
erfahren. Ich sahzu Shim hinunter. »Du kannst hier auf mich warten, wenn du willst. Ich will mir das aus der Nähe betrachten.«
Shim fluchte vor sich hin, während er mir nachschaute. Nach ein paar Sekunden lief er los, um mich einzuholen.
Ich blieb stehen und drehte mich zu ihm um. »Du hast wohl Honig gerochen, stimmt’s?«
Er brummte: »Eher Goblins.« Nervös schaute er über die Schulter. »Aber selbst wenn keine Goblins hier sein, dann sein sie
nicht weit weg.«
»Darauf kannst du dich verlassen. Wir bleiben nicht lange, das verspreche ich dir. Nur lange genug, um zu sehen, wer hier
wohnt.«
Als wir uns dem Garten näherten, stellte ich fest, dass eine kunstlose Mauer die Bäume umgrenzte. Sie war aus dem gleichen
grauen Stein gebaut wie die Hütte und von rostfarbenen Flechten gesprenkelt. Nach den Lücken und den eingefallenen Teilen
zu schätzen waren weder Hütte noch Mauer seit längerem repariert worden. So, wie die zerfallende Mauer die Bäume umschloss,
so umfassten die Bäume die Hütte und streckten ihre belaubten Äste über Dach und Wände. Unter den Zweigen bedeckten mehrere
grüne Beete mit helleren Farbflecken den Boden.
Ich duckte mich, Shim tat es mir nach. Vorsichtig schlichen wir näher. Ein frischer Geruch umwehte uns, das Aroma feuchter
Blätter und junger Blüten. Wie lange war es her, dass ich den Duft lebender, wachsender Pflanzen gerochen hatte! Und dann
fiel mir ein, dass dies hier nicht nur ein Obstgarten war. Es war ein richtiger Garten!
In diesem Moment traten zwei Gestalten aus der Hütte. Sie waren so grau wie die Steine in der Mauer. Mit unsicherenSchritten näherte sich das Paar langsam dem nächsten Pflanzenbeet. Es ging in einem seltsamen, entgegengesetzten Rhythmus:
Ein Rücken
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