Merode-Trilogie 3 - Löwentod: Historischer Krimi aus der Herrschaft Merode (German Edition)
klaffenden Wunden zum Stillstand zu bringen, so dass das Werk des unheimlichen Künstlers zwischen verkrusteten Blutresten sichtbar wurde.
„Wer macht so etwas“, sagte Sibylle kopfschüttelnd. „Seht Euch das bloß an, Dorfherr: Wer schnitzt dem Jungen bloß ein Pferd ins Fleisch? Noch dazu eins mit wuschligen Haaren ...“
„Das ist kein Pferd, Frau Sibylle.“ Mathäus zog die Stirn kraus und machte einen tiefen Atemzug. „Das ist ein Löwe!“
Sibylle ergriff einen Holzspatel und begann damit, die bereitete Paste aufzutragen. „Ob Pferd oder Löwe – was spielt das für eine Rolle? Ach, in welcher Welt leben wir bloß?“
Mathäus beugte sich zu dem Knaben herab, der die pflegerischen Maßnahmen der Hebamme mit zusammengebissenen Zähnen geschehen ließ.
„Wie heißt du, Junge?“
„Ortwin, Herr. Wie mein Vater.“
„Wer hat dir wehgetan, Ortwin?“
Der Junge begann wieder leise zu weinen. „Ein Mann“, erklärte er schließlich.
„Wer war es?“
„Weiß nicht. Er hatte sein Gesicht mit einem Tuch verhüllt, so dass nur die Augen hervorguckten. Er kam ganz plötzlich aus dem Gehölz ...“
„Aus dem Gehölz? Du warst im Wald? Allein?“
„Ja, Herr.“
„Und was, bei allen Heiligen, hattest du dort zu suchen?“
Die verwässerten Augen des Jungen blinzelten verständnislos. „Beeren gepflückt, Herr. Ich hatte Hunger.“
Mathäus bedachte die inzwischen wieder zu Atem gekommene Mutter des Jungen mit einem vernichtenden Blick. „Ihr lasst ihn in den Wald gehen? Nach allem, was geschehen ist?“
Sie breitete hilflos ihre Arme aus. „Man kann seine Augen nicht überall haben. Ich habe schließlich noch andere Bälger, um die ich mich kümmern muss.“
Mit einem stillen Fluch wandte sich Mathäus wieder dem jungen Verletzten zu. „Der Mann kam also aus dem Gehölz. Und weiter?“
„Er packte mich, warf mich auf die Erde. Und dann ...“, wieder rollten dicke Tränen über seine Wangen, „dann hat er mir wehgetan. Mit einem Messer.“
„Hat er irgendetwas zu dir gesagt?“
„Zuerst nicht. Erst als er mich wieder losließ, hat er gesprochen.“
„Und was hat er gesagt?“
„Er sprach von Euch, Herr.“
„Von mir? Rede, Ortwin: Was hat er gesagt?“
„Er ... Ach, ich weiß es nicht mehr, Herr.“
Der Dorfherr fasste ihn unters Kinn. „Dann überleg, Junge. Es kann von großer Wichtigkeit sein!“
Schniefend versuchte der kleine Ortwin sich zu erinnern. „Ich glaube, er sprach von einer Warnung.“
„Er wollte mich also warnen?“
Der Knabe nickte.
„Und hat er auch gesagt, warum oder wovor er mich warnen wollte? Denk nach!“
„Er sagte was von Eurer verdammten Nase und dass Ihr sie ...“
„Dass ich meine verdammte Nase nicht länger in diese Angelegenheit stecken soll?“
„Ja.“ Der Knabe war von den seherischen Gaben des Dorfherrn sichtlich beeindruckt. „Genau das hat er gesagt, Herr. Sonst würde etwas Fürchterliches passieren, hat er gesagt.“
Mathäus nickte ernst und strich ihm durchs verschwitzte Haar. Dann erhob er sich und warf der alten Hebamme einen fragenden Blick zu. Sibylle wusste, was der Dorfherr von ihr wissen wollte.
„Keine Sorge, Mathäus. Den Jungen kriege ich wieder hin. Doch das Pferd auf seinem Rücken wird ihn wohl für den Rest seines Lebens begleiten.“
Mit wütenden Schritten und wehendem Umhang verließ Mathäus das Haus der Hebamme.
13. Kapitel
Es war nicht besonders schwierig für Heinrich gewesen, Robert de Marle aufzuspüren. Lediglich drei dubiose Gestalten zweifelhafter Herkunft hatte er befragen müssen, um dem Franzosen auf die Spur zu kommen. Vor allem in Anbetracht des riesigen Ungeheuers an Heinrichs Seite hatten die Informanten bereitwillig Auskunft gegeben. Seit mehr als einer Stunde folgte Heinrich nun dem hochgewachsenen Franzosen in angemessenem Abstand durch die Gassen der Stadt, stets darauf bedacht, die Aufmerksamkeit des anderen nicht auf sich zu lenken. Doch Robert de Marle wirkte keineswegs wie jemand, der sich verfolgt glaubte. Er trug keine Waffen bei sich, zumindest keine, die man sehen konnte, und er war bekleidet mit dem Gewand eines Adeligen, das aus seiner Herkunft keinen Hehl machte. Robert de Marle mochte an die fünfzig Winter gesehen haben; sein Gesicht war bartlos und kantig, seine Augen blau und kalt. Keine Bewegung seines mächtigen Körpers schien er ohne Bedacht zu tun.
An der großen Waage am Kornhaus hatte Heinrich den Franzosen gefunden. Robert hatte einem Possenreißer gelauscht, war aber schon sehr bald
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