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MERS

MERS

Titel: MERS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D.G. Compton
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Warum nicht? Ich hab’s vor Monaten herausbekommen. Es gibt keine Jungens in meiner Klasse, weil Jungens älter sind. Sie werden älter geboren. Mit acht. Oder vielleicht neun. Sie waren nicht immer so, aber jetzt werden sie einfach älter geboren.«
    Einen Augenblick lang schien das die Erklärung. Er dachte darüber nach. Dann sagte er: »Das ist dumm. Wenn sie so groß sind, wie kommen sie dann aus den Bäuchen der Frauen ’raus?«
    »Wie kommen Babies überhaupt ’raus?«
    Er starrte seine Schwester über den Küchentisch hinweg an. Das war eine gute Frage. Er hatte ihr Pißloch schon eine Million Mal gesehen, und er konnte es sich nicht vorstellen.
    »Es gibt keine Jungen-Babies«, sagte er zu ihr, »weil vor zehn Jahren alle Frauen damit angefangen haben, sie umzubringen.« Er nahm noch etwas Käse. »Mr. Barendt hat das gesagt.«
    »Hat er nicht.«
    »Hat er.«
    »Konnte er nicht.«
    Er gab sich nicht die Mühe mit einer Antwort. Sie war so dumm. Und langweilig. Er hatte es ihr des Langen und Breiten erklärt, also wußte sie es jetzt.
    Sie wußte es. Sie senkte den Kopf, ganz dicht über ihrem Teller. Sie krümmte sich zusammen. Sie hielt die Ellbogen dicht an ihre Seite gepreßt und glaubte ihm. Schon immer, so lange sie zurückdenken konnte, hatte irgend etwas nicht gestimmt, hatte sie einen Verlust gespürt, eine Traurigkeit. Niemand sprach darüber, und jetzt verstand sie den Grund. Nicht Mama – natürlich nicht Mama –, sondern auch alle anderen Frauen. Es war zu böse, um darüber zu sprechen. Mrs. Charkas im Zeitungskiosk und Miss Astrid in der Schule. Alle anderen Frauen. Es war zu böse, um darüber zu sprechen.
    Sie krümmte sich zusammen und ließ ihr angestautes Gefühl der Traurigkeit und des Verlustes herausbrechen, angestaut an diesem Tag und all den anderen Tagen. Das Gefühl der Traurigkeit und des Verlusts um den toten Jungen, dem sie ein Denkmal gesetzt hatten, um seine toten Brüder und um sich selbst. In ihrem Bewußtsein lagen keine Bilder – diese kämen später in ihren Träumen –, sondern lediglich ein unerträglicher Jammer. Sie weinte ohne Zorn, wie es kleine Kinder selten tun, dort in der schattigen Küche über dem vom Sonnenlicht überfluteten Hafen. Es war wie das Lösen eines eisernen Bandes. Jetzt wußte sie es. Keine weiteren Jinks und Jennis mehr. Das Steinzeitalter war längst vorüber. Die Babies der Harbour Street wurden Mai und Frieda genannt.

    »Harri…? Mein Schätzchen, Kind, was ist? Was ist los?« Bess Ryder ragte drohend auf der Türschwelle. »Daniel? Du abscheuliches kleines Ungeheuer – was hast du mit ihr angestellt?«
    Er blickte zu ihr auf, erschrocken, jedoch ruhig kauend. »Nichts.«
    »Nichts? Christus, was bist du für ein Lügner.« Der erste momentane Schock ging vorüber, sie stürzte sich auf Harriet und barg sie in ihren Armen. »Hat er dir weh getan? Was ist geschehen? Was hat er dir angetan?«
    Harriets Kehle und Gesicht waren zu verschwollen zum Sprechen. Sie schüttelte wild den Kopf und schleuderte dabei Tränen und Rotz umher.
    Daniel sagte: »Ich hab überhaupt nichts getan. Ist irgend ’ne Idee, die ihr gekommen ist.« Aber er wußte, er würde entlarvt werden, sobald sie wieder in der Lage war zu sprechen. Während er die Entfernung zur Tür ins Auge faßte, stand er von seinem Stuhl auf.
    »Nichts? Deine Schwester ist wegen nichts in einem solchen Zustand?«
    »Muß ich immer etwas tun? Getan haben? Immer ich? Könnte es nicht jemand anders gewesen sein?«
    Bess suchte in ihrer Overalltasche. Daniel war einer Antwort unwürdig. Sie fand ein Papiertaschentuch und drückte Harriets aus ihrer Armbeuge heraus. »Das reicht jetzt, Harri. Nichts ist letztlich so schlimm, Kind. Du mußt mir sagen, was geschehen ist.«
    Aber sie schluckte und konnte es nicht, und es war schließlich Daniel – was soll’s, zum Teufel! –, der Bess mitteilte, was er gesagt hatte. Wobei er sich damit verteidigte, daß Mr. Barendt es gesagt hatte.
    Er hatte sich zu Recht gefürchtet. Auf einmal war seine Mutter riesengroß, spuckte Speichel, war rot und häßlich, weitaus wütender, als er sie je erlebt hatte. Sie hatte eine laserstrahlscharfe Stimme und harte, umherwirbelnde Hände, die ihn schüttelten, daß ihm die Zähne im Mund klapperten und ihm der Kopf klingelte. Und sie stand zwischen ihm und der Tür, und Harri zog sie am Arm, um sie zum Einhalten zu bringen, und die Küche war wie ein Käfig mit wilden Tieren darin, und er war sich hinterher

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