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MERS

MERS

Titel: MERS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D.G. Compton
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Harriet dachte noch immer nach. Eine ernsthafte Frage
verlangte eine ernsthafte Antwort. »Ich frage mich, was er ihnen
vergeben zu müssen glaubte. Jungen Männern, meine ich. Ist
es nicht vielmehr so, daß die alten Männer die
schrecklichen Dinge tun?«
    Sie sah ihn an, wie er über dem Teetablett stand. Er war
selbst ein alter Mann. Aber er würde ihre Worte nicht
persönlich nehmen. Nicht Julius.
    Er tat’s auch nicht. »Du hast natürlich recht. Ich
fürchte, mein anonymer Aphoristiker und ich haben Spaß
gemacht. Die Verbrechen junger Männer beschränken sich auf
Pickel sowie auf einen Übereifer, Anführern zu
folgen.«
    Harriet wandte sich ab, zum Fenster hin. Sie akzeptierte,
daß Julius gerne angab, aber sie wünschte, er würde
sie nicht soweit bringen, daß sie sich manchmal so schwer
fühlte. So infantil. Nicht jung – infantil.
    »Ruf doch bitte Polly für mich, Julius!«
    Er trat hinter ihr hinaus auf den Balkon. »Polly?« Sein Ruf war opernhaft und ohrenbetäubend. »Polly?«
    Ein Antwortgekrächz kam aus den Bäumen am anderen Ende
des Gartens, und schließlich flog ein grauer Papagei torkelnd
aus den Blättern. Ein Vogel, der in den kurzen Sommermonaten
draußen lebte. Er flog unbeholfen heran und landete mit
klappernden Klauen auf dem Balkongeländer. Er zuckte mit den
Schwanzfedern, legte sie an und blickte daraufhin Julius funkelnd an,
zunächst mit dem einen Auge, dann mit dem anderen, wobei sein
Kopf mit festen, schöpfenden Bewegungen ruckartig hin und her
ging.
    »Besuch für dich, Polly«, sagte er.
»Besuch.«
    Der Vogel gab entsprechende Laute von sich. Es war ein staubiger,
sehr schlichter kleiner Papagei von unentdecktem Geschlecht (er hatte
niemals Eier gelegt) mit rosafarbenen Füßen und leuchtend
orangefarbenen Iris in den schmalen Augen mit den doppelten Lidern.
Wie stets war Harriet sowohl fasziniert als auch abgestoßen.
Sie kehrte ins Zimmer zurück und setzte sich, nahe beim
Teetablett mit der Platte voller englischer Kekse, vorsichtig auf die
Sofakante, damit sie nicht in den Kissen versank. Polly kletterte die
Stütze eines Geländers herab und folgte ihr, mühsam
einen Fuß vor den anderen setzend. Harriet zerbrach einen Keks
und hielt ihr ein Stück hin. Polly nahm es mit einer Klaue und
transportierte es in ihrem furchterregenden Schnabel, der aussah wie
ein mittelalterliches Visier. Als sie ihn öffnete, wurde ganz
kurz eine dicke, purpurfarbene Zunge sichtbar.
    Julius setzte sich in den gegenüberliegenden Sessel, wobei er
ihn ärgerlich in eine erträgliche Form knuffte.
»Verdammtes Ding… Dein Bruder kommt heute abend nach Hause,
hast du gesagt?«
    Der Papagei schlich näher heran. Harriet ließ ihn nicht
aus den Augen. Sie nickte. »Heute, am späten
Abend.«
    »Ich meine mich zu erinnern, daß es ihm in der Armee
gefällt.«
    »Sehr sogar.« Danno hätte wohl alles gefallen, was
ihn von Mama wegbrachte. Das jedoch sprach sie nicht laut aus. Nicht
einmal Julius gegenüber. »Ich glaube, er gehört gern
irgendwo dazu. Und der Schneid. Regiments-Tradition – so was in
der Art.«
    »Wie alt ist er – zwanzig? Ist gerade das richtige
Alter.«
    »Er wird’s zu seiner Lebensaufgabe machen.« Sie
hatte den Verdacht, daß Julius ihren Bruder herablassend
behandelte. »Er macht gerade einen Kurs in fortgeschrittenen
Waffensystemen.«
    »Mein Gott!«
    Polly hatte den Schnabel weit genug geöffnet, daß sie
vorsichtig Harriets rechten Schuh packen konnte. Harriet fühlte
sich von zwei Seiten attackiert. Sie redete nicht gern mit Leuten
über Danno. Und Polly packte jetzt fest zu, drückte leicht
ihren großen Zeh, während sie mit bösartigem Blick zu
ihr heraufstarrte.
    »Sie haben nach der Schule gefragt, Julius, nach Chemie. Die
ist wirklich schwer. Aber wissenschaftliches Forschen, das
möchte ich tun.«
    »Natürlich mußt du das. Ich habe nicht
überlegt. Tut mir leid.« Er hatte ihre beiden Zwangslagen
bemerkt.
    Nachdem er sie aus der einen befreit hatte, hievte er sich im
Sessel hoch, packte Polly, hakte sie von Harriets Schuh los und
brachte sie in ihren Käfig. Er schloß die Tür und
verriegelte sie. Für einen so kleinen Vogel war Polly
merkwürdig angsteinflößend.
    Julius wandte sich wieder ihr zu. »Schwer, sagst du? So
schwer, daß du dir Sorgen um den Abschluß machen
mußt?«
    »Nicht wirklich.« Die Abschlußprüfungen lagen
Ende Juli, noch sechs Wochen hin. »Ich bin ein Jahr voraus. Es
sind bloß diese neurotischen Lehrer. Sie wollen einen

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