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MERS

MERS

Titel: MERS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D.G. Compton
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Männer.«
    Anka seufzte. »Na ja, wenn man eine Religion haben muß,
so hat deine Mutter offenbar die richtige herausgepickt.«
    »Also, Anka.« Julius schenkte ihr Tee ein. »So
meinst du es doch gar nicht. Der Sexismus des vergangenen
Jahrhunderts ist schlimm genug gewesen, ohne daß die verdammte
Gott die Mutter Ihren Senf dazu gegeben hat.«
    »Zumindest hat Sie Jesus als Rollenmodell
geschickt.«
    »Ja – mit seinem ›Frau, was habe ich mit dir zu
schaffen‹?«
    »Das ist nicht fair«, protestierte Harriet. »Mama
hat gesagt, das wäre später hinzugefügt
worden.«
    »Also, offen gesprochen, wenn die Bibel Gottes Wort ist, so
hätte ich von Ihr erwartet, daß Sie sie besser in
Schuß hält.«
    »Bitte!« Ankas Lächeln nahm dem Zischen
etwas die Schärfe. »Könnten wir zu Mrs. Ryders Fond
zurückkehren, Julius?«
    Ein Gespräch mit Anka zog ein erhebliches Senken der eigenen
Lautstärke mit sich. Da sie bei ihrer Mutter lebte, gefiel es
Harriet, aber es verlieh den trivialsten Gesprächen etwas
Stilles und Eindringliches.
    »Die Künstler im Kolleg« – Anka nannte sie
niemals ihre Schüler: sie behauptete, ebenso Schülerin zu
sein wie sie – »möchten eine Ausstellung machen, Geld
für den Fond sammeln. Einer von ihnen hat in der Lokalpresse
einen Artikel über deine Mutter gelesen.«
    Harriet wurde nervös. Mamas gute Werke waren eine Plage
– insbesondere, weil sie dafür sorgte, daß man sie
nicht übersehen konnte. Harriet liebte ihre Mutter, und sie
kamen gut miteinander aus, aber es wäre ihr lieber gewesen, wenn
sie ihre Mutter als ein wenig plemplem hätte abschreiben
können. »Wenn ich das nächste Mal komme, bringe ich
ein paar Prospekte vom Fond mit.«
    »Wobei mir einfällt«, warf Julius, das Thema
wechselnd, ein. »Laß den Prokofieff bis nächste Woche
ein wenig liegen. Es liegt nur an den Fingern. Arbeite statt dessen
am Ravel. Und etwas an freier Assoziation. Das Ohr läßt
sich allzu leicht festlegen, findest du nicht, Anka,
Liebes?«
    Sie sprachen über Musik. Anka fiel etwas ein, sie schoß
zu ihren Einkaufstaschen hinüber und kehrte mit einer
Schallplatte zurück. Dieser Tage war sie winzig und huschte wie
ein Eichhörnchen umher. Sie legte die Platte auf den
Plattenspieler.
    »Insbesondere Harriet sollte das hier hören. Ich habe
sie vor Wochen bestellt – sie ist gerade frisch
eingetroffen.«
    Das Zimmer war erfüllt von einer mit erlesener Leichtigkeit
gesungenen Palestrina-Motette. Der Chor schwebte über den
dünnen, merkwürdig gehauchten oberen Stimmen. Etwas
dergleichen hatte Harriet noch nie zuvor gehört. Die Musik war
schmerzhaft schön, kristallklar, unirdisch, jedoch
leidenschaftlich. Als ihr aufging, daß es sich um eine
historische Aufnahme handeln mußte und die Sänger wohl
Knaben waren, überfiel sie ein heftiges Gefühl des
Verlusts. Sie hatte andere Gefühle des Verlusts aufgrund des
Bevölkerungsrückgangs verspürt, sie hatte geweint,
wenn sie Filme über Teenager-Liebe im Fernsehen angeschaut
hatte, dies hier war jedoch ein Gefühl des Verlusts anderer
Kategorie. Ein Verlust, der in einem Sinn nicht einmal wirklich war
– sie hätte diese Musik wieder und wieder hören
können –, dennoch ein Verlust, der ihr zum erstenmal im
Leben vor Augen führte, wie die alte Welt, die Welt vor dem
MERS, wie die alte Welt zu Ende gegangen war.
    Sie ließen die Platte bis zum Ende durchlaufen. Palestrina,
Monteverdi, Tallis, Vivaldi, am liebsten hätte sie sie für
immer weiterlaufen lassen. Aber es war sechs Uhr durch, und sie
mußte heimgehen.
    Sie sammelte ihre Notenblätter vom Klavier. Draußen im
Flur holte Julius ihr den Sonnenhut von dem verzierten Eckpfosten aus
Fichte am Fuß der Treppe. »Laß den Prokofieff
sein«, erinnerte er sie. »An deinen geschickten Fingern
Gefallen zu finden, ist schön, aber du mußt mehr von dir
verlangen.«
    Er öffnete die Vordertür, küßte sie leicht
auf die Stirn, und sie lief über die Zufahrt davon. Die Magie
des Gesangs war vorüber. Was für einen Unsinn er redete!
Der Ravel verlangte weitaus mehr von ihren Fingern als der
Prokofieff.
     
    Es war Anfang Juni, die Sonne stand noch immer hoch an einem
klaren Himmel. Selbst hier oben über dem Hafen rührte sich
kein Hauch. Harriet verlangsamte ihren Schritt, sie ging im Schatten
der ornamenthaften Kirschbäume, die den Platz umsäumten.
Gerüche nach Liguster, Steinkraut und gemähtem Gras lagen
in der Luft. Sie schritt jetzt leicht aus, von Ferse auf Zehe.

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