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MERS

MERS

Titel: MERS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D.G. Compton
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Das
Schweigen war kostbar. Es war zu spüren wie ein Kribbeln auf dem
Gesicht.
    Der Platz öffnete sich am Ende auf eine Kreuzung, einen
Friedhof, und dann fingen die Sozialbauten an. An Winterabenden ging
Julius mit ihr durch das dunkle Labyrinth identischer
dreigeschossiger Wohnblocks aus braunen Ziegeln mit gelben Schindeln.
Flache, minimalistische Vorsprünge ragten über flachen,
minimalistischen Türen hervor, hohes Gras sproß unter
zerbrochenen Fensterscheiben. Zerbrochenes Plastikspielzeug quoll aus
Mülltonnen hervor, abgebrochene
Roßkastaniensprößlinge waren noch immer an ihre
Stützpflöcke festgebunden, und gelegentlich gab es rings um
die zerbröselnden Betonhöfe Gruppen verschlossener Garagen,
denen es an Autos mangelte, jedoch nicht an inoffiziellen Bewohnern.
In unregelmäßigen Abständen standen
Straßenlaternen, viele davon waren zerstört, und man
hörte von Gewalttätigkeiten dort, von Vergewaltigungen,
Raub und aufgeschlitzten Mädchengesichtern. Schreckliche
Dinge.
    Im Sommer gab es auch Gewalttätigkeit, aber nicht solange es
hell war, also durfte Harriet das Grundstück nach ihren
Unterrichtsstunden allein durchqueren. Sie war nie belästigt
worden, aber sie trabte wachsam dahin. Oftmals hingen hier junge
Leute herum, doch sie kamen ihr nicht in die Quere.
    An diesem Tag aber…
    »Heh – Blondie… wie spät haben wir’s
denn?«
    Sie hatte sie im Wartehäuschen vor sich sitzen sehen, wie sie
die Beine baumeln ließen, und hatte nicht weiter hingeschaut.
Hinter dem Wartehäuschen zog sich eine Reihe Garagen bis zur
Straße hin.
    »Was ist los, Blondie? Biste taub oder was? Sag uns mal die
Uhrzeit!«
    Es waren drei Jungen und zwei Mädchen, und die Mädchen
kicherten. Sie konnte weitergehen. Keiner von ihnen hatte sich
gerührt. Aber weiterzugehen schien hochnäsig zu sein. Sie
wandte sich um und sah sie an.
    »Es ist zwanzig nach sechs.«
    »Danke.«
    Die Jungen waren natürlich überhaupt keine Jungen mehr.
Sie waren älter als Danno, älter als zwanzig, und sie
grinsten über etwas, das sie nicht verstand. Sie saßen da
im Wartehäuschen, dann kam ein Zwischenraum, und dann sie
draußen auf dem Bürgersteig. Sie kam sich noch immer
hochnäsig vor. Der Zwischenraum, und sie in ihrer Kleidung und
die anderen in ihrer. Die Mädchen waren einfach Mädchen,
die nach der Schule herumhingen, aber die Jungen waren alt genug,
daß sie etwas Besseres zu tun haben sollten. Jobs? In diesen
Tagen, für Jungen? Bestimmt.
    Ihr ging auf, daß sie von ihnen noch immer als Jungen
dachte. War das hochnäsig? Sie wandte sich um und wollte
weitergehen.
    »Heh, Blondie – solltest du nicht dein Dingsbums
tragen?«
    Das verstand sie auch nicht, außer, daß darin irgendwo
eine Bedrohung lag, die sie entschlossen machte. Brüsk ging sie
davon. Füße mit weichen Sohlen näherten sich rasch.
Weiteres Gekicher.
    Die Jungen bauten sich in Reih und Glied vor ihr auf. Der
Dünne lehnte sich geistesabwesend an eine weiße
Garagenmauer, der Fette scharrte mit den Füßen im
Rinnstein, der Boss stand ihr in der Mitte gegenüber. Und die
beiden Mädchen standen hinter ihr. Sie waren jetzt still.
Harriet blieb stehen. Sie mußte stehenbleiben.
    »Was wollt ihr?«
    Der Boss: »Ich hab gesagt, solltest du nicht was
anhaben?«
    Sie wollte keine Angst haben. Es war heller Tag, und
gegenüber waren verschnörkelte Fenster mit offenen
Läden. Angst zu haben war ebenso hochnäsig, wie
hochnäsig zu sein.
    Der Boss lachte. »Was wir wollen? Was wollen die meisten
Leute? Gebraucht werden, würd ich sagen, verdammt noch mal.
Würd’st du nich auch sagen, daß die meisten
beschissenen Leute, verdammt noch mal, gebraucht werden
wollen?«
    Worauf wollte er hinaus? Sie hatten sie nicht auf der Straße
angehalten, um mit ihr über den Sinn des Lebens zu reden. Sie
wollten Harriet dämlich erscheinen lassen. Sie gab keine
Antwort.
    »Darum hab ich dich gefragt, ob du nicht dein Dingsbums
tragen solltest. Mein Name is Brak, übrigens. Ohne
›c‹. B-r-a-k.«
    Er streckte die Hand aus. Sie schüttelte sie.
    »Harriet Ryder.« Ihr eigener Name veranlaßte sie
dazu, sich kriecherisch zu verneigen. »Also, was sollte ich
tragen?«
    »Du wirst bemerkt haben, Harriet Ryder, daß das hier
keine nette Gegend ist, verdammt. Frei heraus gesagt, es ist eine
wenig wünschenswerte Gegend. Eine äußerst wenig
wünschenswerte Gegend.« Er genoß die von ihm
gewählten Worte. Das gefiel ihr – sie hatte gleichfalls
viel für Sprache übrig.

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