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MERS

MERS

Titel: MERS Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: D.G. Compton
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Stunde und fünfundfünfzig Minuten
Verspätung kam eine Straßenbahn die Straße aus der
Stadt herauf. Sie blieb stehen, zischend öffneten sich die
Türen, und Anna stieg aus. Ihre Kleider waren hübsch und
sauber, und sie winkte mir strahlend zu.
    »Tut mir leid, daß ich zu spät komme, Mama. Hast
du gewartet?«
    Ich hob mir meinen Zorn für drinnen auf.
    Sie ließ die Schultasche auf einem Stuhl liegen und ging
langsam in das große Wohnzimmer. Sie war sehr bleich. Ihre gute
Laune war Heuchelei gewesen.
    »Ehrlich, Mama, es war gräßlich. Der arme Mann hat
das absichtlich getan. Er hat sich vor die Straßenbahn
geworfen.«
    »Du hättest anrufen können.«
    »Er war zwischen den Rädern gefangen. Sie haben
Schutzschilde errichtet. Es war gräßlich.«
    Mark rüttelte an den Scheiten im Kamin. Er war mit mir einer
Meinung. »Du hättest anrufen können, Anna.
Liebes.«
    »Ich konnte nicht. Sie haben Aussagen haben wollen. Namen und
Adressen. Sie haben ewig gebraucht, bis sie gekommen sind. Alles hat
ewig gebraucht.«
    »Ich hab mir Sorgen gemacht, Anna. Sie hätten dich
telefonieren lassen sollen.« Ich faßte sie beim Arm.
»Ich hab mir wahnsinnige Sorgen gemacht.«
    »Mitten auf der Straße? Anrufen?« Sie
schüttelte mich ab. »Da waren Krankenwagen. Polizei. Die
Straßenbahn hat so stark gebremst, daß Fahrgäste
verletzt worden sind. Es war gräßlich, Mama.«
    »Das ist keine Ausrede. Die Polizei hat Funkgeräte. Du
hättest uns darüber eine Nachricht zukommen lassen
können. Du weißt, wie die Dinge stehen. Du hast dich
entsetzlich benommen. Ich werde dir nie mehr trauen
können.«
    »Das ist nicht fair. Wir waren Dutzende in der Bahn. Leute,
schwer verletzt. Blutend. Bloß weil du einfach eine rasende
Neurotikerin bist, ist das kein Grund dafür…«
    Ich hätte sie fast geschlagen. »Halt den Mund! Du
bösartiges kleines Ungeheuer – merkst du denn nicht,
daß ich hier zwei geschlagene Stunden gewartet und mir
vorgestellt habe…«
    »Und was habe ich deiner Meinung nach getan? Da war Blut,
Mama. Vielleicht hätte es dir nichts ausgemacht. Weil du
Ärztin und all das bist, hätte es dir vielleicht nichts
ausgemacht. Mir hat es was ausgemacht. Der Mann hat sich umgebracht,
Mama. Er hat sich vor die Straßenbahn geworfen…«
    Sie weinte, und ich auch. Mark stellte sich zwischen uns.
»Annie. Annie, Liebes, du hattest ein schreckliches
Erlebnis.« Er legte ihr einen Arm um die Schultern. »Etwas
Häßliches ist geschehen… aber deine Mutter ist nicht
neurotisch, wenn sie sich Sorgen macht, weil du nicht nach Hause
kommst. Wir beide…«
    »Dieses Geschrei wegen mir? Ist das nicht neurotisch? Dieses
klassische Ich-werde-dich-bestrafen-
weil-ich-erschreckt-worden-bin… ist das nicht
neurotisch?«
    »Nicht schon wieder, Annie. Du bist ebenfalls erschreckt
worden, vergiß das nicht!« Er sprach sehr sanft und
wartete, bis sie es verstand. »Wir beide wissen, daß du
wirklich nicht hattest anrufen können.«
    Er streckte die andere Hand mir entgegen. Hatte ich geschrien?
Jesses!
    Ich nahm seine Hand. »Tut mir leid, Annie. Liebes.«
    »Mir auch.«
    »Und ich bin so froh, daß du unversehrt bist. Das ist
alles.«
    »Ich bin ebenfalls froh, daß ich unversehrt bin,
Mama.«
    Die zweistündige Verspätung hatte unser Abendessen nicht
völlig ruiniert. Dennoch war’s ziemlich schlimm.

 
Der Bevölkerungsrückgang
Jahr 25: Mitte August
8
     
    »Ein prächtiger weiblicher Embryo, vier oder fünf
Wochen alt, und sitzt fest.« Dr Vrieland blickte sie über
die Ränder seiner Brillengläser hinweg an. »Sie sind
schwanger, Harriet Ryder.«
    »Das habe ich mir gedacht.« Sein mit Parkett ausgelegtes
Büro im städtischen Krankenhaus war winzig: der Stuhl vor
seinem Schreibtisch stand quer, um Platz für die Knie seiner
Patienten zu schaffen. »Das ist wundervoll.«
    Er lächelte. »Noch mal, meine Liebe, diesmal mit
Gefühl.«
    »Nein – es ist wirklich wundervoll.« Es war
wundervoll. Seit Jahren hatte sie von Karl ein Baby haben wollen, und
jetzt hatte es geklappt. »Es ist nur so,
daß…«
    »Es ist nur so, daß Sie einundzwanzig Jahre alt sind,
Ihr Studium beenden müssen und daß ein wichtiger Job auf
Sie wartet, und Sie glauben, der betreffende Mann ist nicht
interessiert.«
    »Sie haben eine Menge mitbekommen.«
    Dr. Vrieland zuckte die Achseln. »Vielleicht ist er
verheiratet. Vielleicht unterhält er eine Vielzahl von Familien
und kann sich eine weitere nicht leisten. Vielleicht ist er ein
widerlicher

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