Messer, Gabel, Schere, Mord: Mitchell& Markbys Vierter Fall
Meredith war keine Weinkennerin. Der Mann in der Geschichte hatte seinen Feind die Treppe hinuntergelockt, um ihn einen seltenen Amontillado kosten zu lassen. So ein Unsinn. Aber warum sahen dann diese Flaschen in ihren Gestellen so Unheil verkündend aus, wie Kanonen, die auf sie gerichtet waren? Meredith sog prüfend die Luft ein. Sie war nicht so frisch, wie sie eigentlich sein sollte. Vielleicht lag es an all den Menschen, die an diesem Tag hier unten gewesen waren, ganz zu schweigen von dem laut streitenden Mob hinter dem Durchgang zum nächsten Gewölbe. Dazu ein eigenartiger Geruch: ein wenig nach Wein, ein wenig nach Staub, ein wenig blumig oder fruchtig. Sie schnüffelte erneut. Überraschend blumig. Ganz und gar nicht so, wie ein Wein riechen sollte. Sie wandte sich um und wollte zurückgehen, als sie im Augenwinkel einen kleinen weißen Schimmer bemerkte, ganz am Ende der Weinregale, in der Lücke zwischen Gestell und Wand. Meredith blinzelte. Es war ein weißer Handschuh, der dort auf dem gepflasterten Boden lag. Irgendjemand, einer der Gäste oder vielleicht ein Kellner, hatte ihn dort fallen lassen. Meredith ging zu der Stelle und erkannte, dass es kein Handschuh war. Es war eine Hand. Meredith blieb stehen; sie fühlte sich plötzlich krank. Sie hätte sich umdrehen und wegrennen und um Hilfe rufen können, doch das Stimmengewirr hinter dem Durchgang verriet ihr, dass immer noch alle damit beschäftigt waren, die Flitzerin aus dem Keller zu vertreiben und die Kameraleute abzuwehren. Sie zwang sich, näher zu treten, einen Schritt nach dem anderen, näher heran. Die Hand lag mit der geöffneten Innenseite nach oben, und jetzt konnte Meredith auch den Arm sehen – und den Körper der Frau, die zusammengerollt in der Nische lag. Eine Flut von Gedanken jagte durch Merediths Kopf. Der erste war, dass die Frau noch nicht in der Nische gekauert hatte, als sie am Nachmittag durch die Weinkeller geführt worden waren. Der zweite war ein fieberhafter Wunsch, dass die Frau dort am Boden, wer auch immer sie sein mochte, einfach nur betrunken war oder irgendein dummes Spiel spielte, wie es die Nackte getan hatte. Vielleicht hatte noch jemand anderes vorgehabt, die Eröffnungsfeier zu stören. Doch hinter all diesen wilden Spekulationen lauerte die größere Wahrheit, und sie war Furcht erregend. Meredith beugte sich über die zusammengekauerte Gestalt. Jetzt sah sie, dass die Frau um die Vierzig war und das dunkle Haar zu einem geraden Bubikopf geschnitten trug. Sie sah gut aus – hatte gut ausgesehen, mit hohen Wangenknochen, die slawisch wirkten. Der mit Lippenstift nachgezogene Mund stand leicht offen, genau wie ihre Augen. Sie schien überrascht, als hätte jemand sie mitten in einer Unterhaltung gestört. Meredith fragte sich, was wohl ihre letzten Worte gewesen waren. Sie bemerkte, dass die Frau einen handgestrickten, scharlachroten Pullover trug. Aus der Einbuchtung über ihrem Schlüsselbein ragte ein Messergriff. Blut sickerte noch immer aus der Wunde und durchnässte die Wolle am Hals des Strickpullovers. Meredith hatte es zuerst nicht bemerkt, weil die Farbe der des Pullovers so ähnlich war. Sie kämpfte gegen aufsteigende Übelkeit an. Hastig richtete sie sich auf und blickte sich um, und dabei bemerkte sie eine Bewegung auf der anderen Seite eines freistehenden Flaschenregals zu ihrer Linken.
»Wer ist da?«, fragte sie scharf.
»Kommen Sie heraus!« Noch während die Worte über ihre Lippen kamen, wurde ihr bewusst, dass es nicht nur dumm von ihr gewesen war, sondern in höchstem Maße gefährlich. Durchaus möglich, dass sich der Mörder selbst noch dort versteckt hielt. Doch jetzt war es zu spät zum Weglaufen. Meredith wappnete sich. Ein erschrecktes Keuchen antwortete, dann kratzte eine Schuhsohle über den Steinboden, und zögernd trat eine Gestalt aus ihrer Deckung vor Meredith. Es war eine junge Frau, Anfang zwanzig. Sie trug Jeans und Turnschuhe, und ihr Haar war zu einer zerfransten Igelfrisur geschnitten, so unregelmäßig, dass es aussah, als hätte sie selbst versucht, sich die Haare zu schneiden. Sie war sonnengebräunt und wirkte wie eine viel ältere Person, doch sie war nichtsdestotrotz schön, auch wenn ihr Gesicht zu einer Maske des Entsetzens verzerrt war. Ihr Mund bewegte sich, ohne dass auch nur ein Laut zu hören gewesen wäre, und ihre runden blassblauen Augen traten deutlich hervor. Meredith kannte die Anzeichen einer unmittelbar bevorstehenden Hysterie und sagte
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