Messewalzer
geht auf mich.«
Kroll spürte die Wirkung des Alkohols deutlich, war jedoch nicht bereit, gerade jetzt einen Schlussstrich unter den Abend zu ziehen. Wiggins ging es ähnlich.
»Aber nur, wenn du uns heute nicht mit deinen Fragen löcherst«, forderte er.
»Keine Sorge«, winkte Hirte ab. »Dazu könnte ich mich heute nicht mehr aufraffen. Außerdem ist das eh nicht meine Story. Da sitzt ein Kollege aus der Redaktion dran. Und der Idiot soll auch mal was alleine schreiben. Der hat die letzte Zeit ohnehin nur von mir seine Storys gekriegt. Und dann schleimt der sich auch noch beim Chef ein. So ein Arschloch, ich sag’s dir!« Günther Hirte war die willkommene Abwechslung. Er war der klassische Nachtschwärmer und mit halb Leipzig bekannt. Seine Geschichten aus der Stadt, alle brandaktuell und unterhaltsam erzählt, verhinderten, dass die Gespräche doch ins Dienstliche abglitten.
Es war schon nach zwei Uhr, als sich die Gesellschaft auflöste. Günther Hirte wollte noch weiterziehen, Wiggins nahm sich ein Taxi und Liane bat Kroll, sie noch nach Hause zu bringen. Sie bestellten ein weiteres Taxi und setzten sich zusammen auf die Rückbank. Kurz nachdem sie losgefahren waren, griff Liane nach Krolls Hand.
»Bleibst du noch ein bisschen bei mir?«
Kroll sah auf die Uhr. »Sei mir bitte nicht böse. Aber ich bin total müde und hab zu viel getrunken! Ich wäre heute bestimmt keine gute Gesellschaft mehr.«
»Schade«, bemerkte Liane knapp.
Das Taxi hielt vor dem Haus, in dem Liane wohnte. Sie gab Kroll einen Kuss auf die Wange und wollte die Tür öffnen.
»Warte mal«, sagte Kroll. Liane drehte sich wieder um und sah Kroll lächelnd an. Sie ging davon aus, dass er es sich noch einmal anders überlegt hatte.
»Eine Frage geht mir nicht aus dem Kopf.«
Liane musterte ihn ungläubig.
»Warum hat dieser Goran dich entführt? Warum ausgerechnet dich?«
»Ich bin die Tochter von Annemarie Rosenthal«, antwortete sie trocken und verließ das Taxi.
Dr. Helmut Dankner saß noch am Schreibtisch in seiner Arztpraxis. Er war es gewohnt, auch spät abends zu arbeiten, um den angefallenen formellen Kram zu erledigen. Abrechnungen, Arztberichte für die Krankenkassen, Buchhaltung. Die Bürokratie nahm stetig zu. Er war über 70 Jahre, konnte aber vom Beruf des Arztes nicht lassen. Was sollte er denn sonst machen? Rasen mähen und Hecke schneiden? Nein, das kam für ihn nicht infrage. Und außerdem! Was sagte denn das biologische Alter schon aus? Man ist nur so alt, wie man sich fühlt und Dr. Dankner war höchstens gefühlte 45. Seine Patienten waren ihm treu geblieben und mit ihm alt geworden. Das lag sicherlich auch an seiner äußerst charmanten Art. Bereits im Studium hatte er den Spitznamen ›der schöne Helmut‹ und auch das Alter hatte seinem Aussehen nicht geschadet. Er war groß gewachsen, hatte vornehme graue Haare und sich seine schlanke Figur erhalten. Kaum eine Patientin, und davon gab es deutlich mehr als Patienten, verließ seine Praxis ohne ein Kompliment. Eine nette Begleiterscheinung zu einem nicht immer so dringend erforderlichen Arztbesuch.
Dr. Dankner stöhnte über den Abrechnungen, als es an seiner Tür läutete. Er sah auf die Uhr und wunderte sich über den späten Besuch, denn seine Sprechstunde war lange beendet.
Nachdem er die Tür geöffnet hatte, blickte er zuerst in die Mündung eines Revolvers.
»Brauche Arzt«, sagte der Besucher mit slawischem Akzent. Er stützte sich auf eine Krücke.
Dr. Dankner ließ sich seine Aufregung nicht anmerken. Er war völlig gelassen, was ihn selbst überraschte. »Nehmen Sie die Waffe weg. Ich bin Arzt. Ich helfe jedem Menschen, wenn er mich braucht.«
Sie gingen in den Flur, die Tür fiel ins Schloss. »Kein Telefon, kein Handy, kein Schreien«, forderte der ungebetene Gast.
»Sagen Sie mir endlich, was ich für Sie tun kann.«
Goran steckte die Waffe in den Hosenbund am Rücken. »Mein Bein.«
»Na dann kommen Sie mal mit.« Der Arzt ging ins Behandlungszimmer und bedeutete dem Fremden, sich auf die Liege zu legen. Er registrierte die blutverschmierte Stelle auf der Jeanshose im Bereich des Unterschenkels und sah seinen Patienten an. »Ich muss die Hose aufschneiden. Sonst kann ich die Wunde nicht untersuchen.«
Goran nickte.
Das linke Bein war im oberen Bereich des Schienbeins stark geschwollen und blau angelaufen. Der Arzt tastete den Knochen vorsichtig mit den Fingerkuppen ab. Sein Patient schien keinen Schmerz zu spüren. Dankner
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