MetaGame: Science-Fiction Thriller (German Edition)
unternahm er den Versuch, diese emotionale Störung in seinem Bewusstsein zu reparieren – nicht, dass alle Gefühle zu vermeiden waren. Ärger, Furcht, sogar Eifersucht konnten den menschlichen Geist ermutigen, wenn er einen Anstoß benötigte, oder ein gesundes Maß an Besonnenheit einflößen, wenn die Notwendigkeit hierfür bestand. D_Light hatte jedoch den Verdacht, dass nicht alle Gefühle von gleichem Nutzen waren. Soweit er es verstand, handelte es sich bei dem Gefühl, das er gerade empfand, um Reue. Reue. Weshalb konnte er Reue verspüren, wenn er einen kühnen und ausgezeichneten Zug nach den Regeln des Spiels ausgeführt hatte? Auf dem Pfad zur Unsterblichkeit war nur wenig Platz für Reue, und ungerechtfertigte Reue war gewiss nutzlos. Schlimmer als nutzlos – sie war von Nachteil.
Natürlich hatte D_Light nicht zum ersten Mal ein schlechtes Gefühl erfahren, und seine Lieblingsmethode des Umgangs damit war zugleich auch die zweckmäßigste – die gute alte Unterdrückung. D_Light stellte sich gern vor, wie er das Gefühl in eine große eiserne Schachtel legte und diese Schachtel dann in eine weitere stellte. Den Vorgang würde er so oft wie nötig wiederholen. Er hatte diesen mentalen Kniff viele Male angewendet, aber jetzt funktionierte er nicht. Die negativen Gefühle schienen Fetzen aus Dunkelheit zu sein, immaterielle Fäden, die durch die Schweißnähte entkamen.
Da Unterdrückung keine Option war, entschloss sich D_Light, einige einfache Desensibilisierungsübungen durchzuprobieren, was allerdings mehr Zeit erforderte und schmerzhafter war als die Schachtel-Technik, sich letztlich jedoch als zuverlässiger erwies. Er begann damit, dass er sich den Leichnam im Geiste vorstellte. Als Erstes hatte er die Augen des Mädchens vor sich. Ihre Augen – im Leben fesselnd gewesen – waren im Tod bloß noch große, glitzernde Murmeln, leer und zum Boden verdreht. Er hielt diese Erinnerung für einige lange Momente fest und holte ein paar Mal langsam und tief Luft. Daraufhin forderte er Smorgeous schweigend auf, nach und nach die gesamte Leiche in sein Bewusstsein hochzuladen. Er wollte sie in allen Einzelheiten sehen.
Zunächst musterte er sie mit großem Unbehagen. Ihr pechschwarzes Haar schimmerte und war klebrig, überkrustet von geronnenem Blut. Die gesunde Seite ihres Gesichts – die nicht eingeschlagene Seite – lag oben, und die perfekten Linien und Rundungen bildeten eine oliven-farbene steinerne Maske. Dann schwenkte das Bild herum, sodass D_Light die Szenerie als Ganzes betrachten konnte. Es gab viel Blut – Blut auf Gesicht und Hals sowie Blut, das Blutlachen auf dem Steinfußboden bildete. Er konzentrierte sich auf ihre leblose Hand, bis das gesamte Bild verschwamm. Langsam spürte er, wie sich die dunklen Fäden lösten und ihn das grausige Bild immer weniger schmerzte; und als er sich schließlich vom Archiv trennte, geschah es mit nur einem ganz leisen Hauch von Erleichterung.
Nachdem er die Dusche verlassen hatte, wählte D_Light einen leichten Skinsuit, den leichtesten, den er hatte. Schließlich war Sommer, und er hoffte, heute hinauszukönnen und die Sonne zu spüren. Der ausgewählte Skinsuit war reinweiß und schimmerte etwas wegen der unzähligen im Gewebe eingebetteten Mikrolinsen. Da er an diesem Morgen zu einer Andacht in die Kirche gehen würde, bat er Smorgeous mental, etwas Formelleres hochzuladen als das, was er gewöhnlich aussuchte.
Okay, Smorgeous, wir können wieder miteinander reden. Ich trage den Anzug aus dem, äh, Stück, das ich neulich gesehen habe
.
D_Lights Erinnerung an jenes spezielle Stück reichte Smorgeous für die Entscheidung aus, welchen Anzug sein Herr angefordert hatte.
Ja, Herr
, entgegnete der Vertraute.
Das Anzugmodell »Göttliches Schicksal« kostet 630 Punkte je Gebrauch
.
Die Spezifikationen wurden zu D_Lights Skinsuit hochgeladen, und die optischen Linsen übersetzten sie in die blauen kurzen Hosen, das Hemd und das Sportjackett. Alles saß ihm so perfekt am Leib, wie es nur eine Illusion zustande brachte. Während er sich im Spiegel musterte, wünschte sich D_Light, er könne ebenfalls sein Haar verändern. Allmählich wurde es lang und schwer zu bändigen, ein Schandfleck an einem ansonsten verblüffend gut aussehenden Mann. Eine solche Veränderung stand jedoch außer Frage. Das eigene natürliche Erscheinungsbild mit Hologrammen zu verändern – sogar bloß die Frisur oder die Hautfarbe –, war eine Sünde.
Eine lange Minute
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